Vergiftungsverdacht bei russischem Ex-Agenten:Ein Vorfall wie ein Krimi

  • Ein früherer russischer Doppelagent und seine Tochter werden mit Symptomen einer Vergiftung ins Salisbury District Hospital eingeliefert.
  • Der Leiter der britischen Anti-Terror-Behörde, Mark Rowley, spricht in sehr britischem Understatement von einem "sehr ungewöhnlichen Fall".
  • Tatsächlich sind die Parallelen zur Ermordung des übergelaufenen KGB-Agenten Litwinenkos im Jahre 2006 unübersehbar.

Von Alexander Menden, London

Das Paar auf der Bank im Maltings Shopping Centre benahm sich reichlich merkwürdig. So, "als hätten sie etwas ziemlich Starkes eingenommen", sagt Freya Church. Die Frau war am vergangenen Sonntagnachmittag im Einkaufszentrum von Salisbury im Süden Englands unterwegs, als ihr der ältere Mann und seine deutlich jüngere Begleiterin auffielen. "Sie lehnte sich an ihn. Es sah aus, als sei sie ohnmächtig", zitieren britische Zeitungen die einzige Zeugin. "Er machte seltsame Handbewegungen und blickte nach oben. Ich wusste nicht, ob ich etwas tun sollte. Ich dachte, sie seien einfach Obdachlose, die etwas geschluckt hatten."

Ob die beiden etwas zu sich genommen hatten, was ihnen offenkundig nicht gut tat - und wenn ja, was -, das versuchen seither die britischen Behörden herauszufinden. Nachdem der rasch herbeigerufene Rettungsdienst das Paar ins Salisbury District Hospital gebracht hatte, wurde als erste, vage Diagnose bekannt gegeben, dass sie vermutlich einer "bisher noch nicht identifizierten Substanz ausgesetzt" gewesen seien.

War der Vorfall schon eigenartig genug, bekam er wenig später eine politische, eine hochpolitische Dimension: Denn bald stellte sich heraus, dass es sich bei den beiden um einen gewissen Sergej Wiktorowitsch Skripal und seine Tochter Julia handelte. Skripal war einst russischer Spion - im Sold des geheimnisumwobenen britischen Geheimdiensts MI 6.

Der heute 66-jährige Skripal war Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Im Jahre 2006 war er beschuldigt worden, in den 1990er Jahren russische Geheimagenten in Europa an den MI 6 verraten zu haben. 100 000 US-Dollar soll er dafür erhalten haben. Skripal wurde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt.

"Sehr ungewöhnlicher Fall"

2010 aber begnadigte ihn der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew. Mit drei weiteren Gefangenen wurde er gegen zehn russische Spione ausgetauscht, die das FBI in den Vereinigten Staaten verhaftet hatte. Skripal wurde umgehend ins Vereinigte Königreich ausgeflogen, von den britischen Geheimdiensten verhört und bekam dann, wie sich nun zeigt, einen neuen Wohnsitz in der Grafschaft Wiltshire zugewiesen.

Am Sonntagabend war sein Haus in einem ruhigen Viertel Salisburys von der Polizei abgeriegelt, ebenso ein italienisches Restaurant, in dem er und seine Tochter wohl zu Mittag gegessen hatten. Die Polizei veröffentlichte Bilder einer Sicherheitskamera, die einen Mann und eine Frau zeigen, welche kurz zuvor an der fraglichen Bank vorbeigegangen waren.

Es handele sich um einen "sehr ungewöhnlichen Fall", sagte der stellvertretende Chef der Londoner Metropolitan Police und Leiter der britischen Anti-Terror-Behörde, Mark Rowley, in sehr britischem Understatement. Am Dienstagabend dann teilte Scotland Yard mit, dass die Anti-Terror-Einheit die Ermittlungen übernehme, wie schon vor Jahren im Fall des russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko.

Spionagegeschichten voller schillernder Details

Tatsächlich sind die Parallelen zur Ermordung Litwinenkos im Jahre 2006 unübersehbar. Der Geheimdienstmann war Leiter der Abteilung zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität beim KGB. Als er mit seinen Ermittlungsergebnissen über die Mafia bei Wladimir Putin kein Gehör fand, wandelte er sich zu einem Gegner des Präsidenten und floh nach Großbritannien. Dort informierte er europäische Ermittler über die Tätigkeit der russischen Mafia in Europa, deren Spuren bis an die Spitze des russischen Staates führten.

Polonium im Tee, Giftkapsel im Regenschirm

Am 3. November 2006 aber wurde er mit Erbrechen und Atembeschwerden in ein Londoner Hospital eingeliefert. Kurz vor seinem Tod wenige Wochen später stellte sich heraus, dass er mit radioaktivem Polonium vergiftet worden war.

Scotland Yard forderte damals die Auslieferung des ehemaligen KGB- und FSB-Mitarbeiters Andrej Lugowoi. Die Briten verdächtigten ihn, bei einem Treffen das Polonium in Litwinenkos Tee gemischt zu haben. Die Russen lehnten unter Verweis auf die parlamentarische Immunität des Duma-Abgeordneten Lugowoi ab. Die Folge war eine diplomatische Dauerkrise zwischen London und Moskau, die bis heute anhält. Gerade erst hat sie durch Hinweise auf den Einsatz russischer Twitter-Bots in der Anti-EU-Kampagne vor dem Brexit-Referendum neue Nahrung erhalten.

Former Russian Agent Poisoned In London

Der vergiftete KGB-Mann Alexander Litwinenko.

(Foto: Getty Images)

Tatsächlich gibt es einige Spionagegeschichten voller schillernder Details, die beide Länder verbinden, oder besser gesagt, trennen. So lieferten sowjetische KGB-Agenten die Giftkapsel, mit der ihre Kollegen vom bulgarischen Geheimdienst den Dissidenten Georgi Markow ermordeten: durch einen Stich mit einem präparierten Regenschirm mitten auf der Londoner Waterloo Bridge. 1978 war das.

Der wohl berühmteste Fall während des Kalten Krieges war aber die Enttarnung des russischen Spionagerings der "Cambridge Five" um den MI-6-Offizier Kim Philby. Der Spionagering war nach der Universitätsstadt benannt, in der dessen Mitglieder alle studiert hatten. Sie waren wohl bereits während des Studiums in den 1930er-Jahren rekrutiert worden und versorgten die Sowjets im Zweiten Weltkrieg und danach mit Informationen. Philby lieferte bis 1963, ehe er von Beirut aus nach Moskau floh.

Vergiftungsverdacht bei russischem Ex-Agenten: Der britische KGB-Agent Kim Philby.

Der britische KGB-Agent Kim Philby.

(Foto: AP)

Der britische Schriftsteller (und Autor von Spionageromanen) Graham Greene war mit ihm befreundet. Der Fall inspirierte unter anderem auch John le Carré zu seinem Spionage-Thriller "Dame, König, As, Spion". In einem Interview mit der New York Times sagte le Carré jüngst: "Die Mentalität, die Russland heute bestimmt, unterscheidet sich, was Putin angeht, absolut nicht von der, die die exotischsten Verschwörungen des Kalten Krieges motivierte."

In Großbritannien glauben die meisten Kommentatoren, dass Skripal ein weiteres Opfer ebendieser Mentalität geworden ist. Er und seine Tochter sind weiterhin in kritischem Zustand. Ben Emmerson, Anwalt der Witwe Litwinenkos, sagte, die Taktik des russischen Staates, politische Gegner zu ermorden, sei "zu lange hingenommen" worden. London müsse den Fall umgehend untersuchen. Ungehört sind seine Worte offenbar nicht geblieben. Außenminister Boris Johnson kündigte noch am Dienstag im Unterhaus eine "angemessene und robuste Reaktion" an, sollte sich der Verdacht Richtung Moskau erhärten.

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