Sexueller Übergriff:Fall Stanford - die Fratze einer verklemmten Gesellschaft

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Ein Semester Haft für eine Vergewaltigung, das ist ein Urteil, das den Täter (Mitte rechts) offensichtlich ernster nimmt als das Opfer. (Foto: AP)

An US-Hochschulen gibt es eine erschreckende Häufung von Gewalt gegen Frauen, Trink-Orgien und Macho-Exzessen. Amerika mangelt es immer noch an Respekt vor Frauen.

Kommentar von Nicolas Richter

Auf dem Campus genießt Amerikas Jugend zum ersten Mal die große Freiheit. Sie ist endlich weit weg von den kontrollierenden Eltern, es gibt plötzlich Partys mit Alkohol in rauen Mengen. Verstörend ist, wie solche Abende immer wieder enden: Junge Männer missbrauchen oder vergewaltigen junge Frauen, oft sind beide minderjährig. Jede fünfte US-Studentin wird Opfer sexueller Gewalt. Der Campus und sein Umfeld sind Areale sexueller Selbstbedienung; Männer nehmen sich, was sie wollen.

Das landesweite Entsetzen über den jüngsten Fall aus Stanford hängt auch damit zusammen, dass die vergewaltigte Frau vor Gericht so eindringlich von ihren seelischen Wunden erzählt hat, und dass ihre Worte im Internet veröffentlicht wurden. Meist aber sind die Opfer stumm: Nur jeder zehnte Übergriff wird gemeldet, Strafen sind noch seltener. Etliche missbrauchte Frauen verzichten aus Scham und aus Angst vor Repressalien darauf, ihren Peiniger zu nennen.

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:"Du kennst mich nicht, aber du warst in mir"

2015 hat US-Schwimmer und Olympia-Hoffnung Brock Turner in Stanford eine Frau vergewaltigt. Im Prozess wendet sie sich mit einer beeindruckenden Ansprache an den Täter.

Als Ursache der Gewalt nennt Präsident Barack Obama den Umstand, "dass die amerikanische Gesellschaft - vom Sport über die Popkultur bis zur Politik - Frauen noch immer zu wenig wertschätzt". Das stimmt, und es lässt sich bei jedem Sportereignis beobachten, wenn männliche Superstars auf das Feld laufen und sehr knapp bekleidete Cheerleader ihre Pompons schwingen. Allgemein ist in Teilen Amerikas noch immer eine Machokultur vorherrschend, in der sich Männer schlicht mehr erlauben können. Der Täter von Stanford (ein Sportler) hat zudem die Party- und Trinkkultur auf dem Campus angeprangert. Auch das ist richtig: Entspannung ist bei vielen Studentenfeiern offenbar nur noch am Rande der Bewusstlosigkeit möglich.

Wer sich aber nur auf "die Kultur" beruft, der entlässt jeden Einzelnen aus der Verantwortung. Schon gar nicht entschuldigt irgendeine Kultur das, was der junge Mann in Kalifornien seinem sturzbetrunkenen, reglosen Opfer angetan hat. Wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt, dann geht nicht erst etwas schief, wenn sich der Mann im Alkoholnebel verliert, da muss schon vorher eine Attitüde vorherrschen, wonach der Mann Ansprüche hat.

Die Frau ist sozusagen selbst schuld, wenn sie die Kontrolle verliert

Das US-Sexualstrafrecht gehört noch immer zu den striktesten der westlichen Welt, in manchen Staaten erfasst es sogar Seitensprünge. Im Alltag aber verfolgt die Justiz Sextäter selten mit großer Härte, erst recht, wenn sich das Opfer nicht erinnern kann. Demnach ist die Frau sozusagen selbst schuld, wenn sie die Kontrolle verliert. Gleichzeitig wird der mutmaßliche Täter oft voreilig entlastet, weil er ja selbst alkoholisiert war. Dabei ist längst nicht jeder Angetrunkene auch schuldunfähig. Wenn die Sache überhaupt vor Gericht landet, zeigt der Richter oft befremdliche Milde: Im Fall von Stanford verurteilte er den Täter zu nur sechs Monaten, aus Sorge um dessen "Zukunft". Ein Semester Haft für eine Vergewaltigung, das ist ein Urteil, das den Täter offensichtlich ernster nimmt als das Opfer.

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Der Fall Stanford offenbart freilich auch Fortschritte: Der Täter landete vor Gericht, die Universität hat ihn vom Campus verbannt, die Öffentlichkeit hat sich hinter der Frau versammelt und gegen den Richter gestellt.

All dies aber sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allermeisten Opfer noch immer im Schatten bleiben, allein mit ihren Qualen.

© SZ vom 11.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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