Verfassungsreform:Worum es im Referendum in der Türkei geht

Verfassungsreform: Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist der Motor hinter dem Projekt Verfassungsänderung.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist der Motor hinter dem Projekt Verfassungsänderung.

(Foto: AP)

Am Sonntag stimmen mehr als 58 Millionen Türken über Präsident Erdoğans Verfassungsänderung ab. Welche Folgen hätte sie? Und wie sicher ist, dass die Wahl nicht manipuliert wird? Ein Überblick.

Von Julia Ley

Worüber wird in der Türkei abgestimmt?

Die Türkei steht am Sonntag vor einer weitreichenden Entscheidung. Die Bürger sollen in einem Referendum über eine Verfassungsänderung entscheiden. Die bisherige Verfassung wurde nach einem Putsch von der damaligen Militärregierung geschrieben und 1982 in einem Referendum mit großer Mehrheit des Volkes angenommen. Seither wurde sie viele Male geändert, etwa zwei Drittel der 177 Artikel sind bereits neu gefasst worden. Dennoch halten eigentlich alle Parlamentsparteien eine weitere Reform für nötig. Nur, darüber, wie diese aussehen sollte, gehen die Meinungen weit auseinander.

Was will Erdoğan?

Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist der Motor hinter dem Projekt Verfassungsänderung. Das liegt auch daran, dass die Reform vor allem ihm selbst zugute käme. Denn mit der neuen Verfassung soll ein Präsidialsystem durchgesetzt werden. Das muss nicht per se schlecht sein, heißt aber: Das bislang eher repräsentative Amt des Präsidenten würde mit deutlich mehr Macht ausgestattet. Der Präsident könnte nicht nur seine Minister und Stellvertreter selbst ernennen, sondern in seinen Kompetenzbereichen auch per Dekret regieren. Was das bedeutet, macht seit seiner Amtseinführung US-Präsident Donald Trump vor. Der Spielraum des türkischen Präsidenten könnte sogar noch größer sein, glauben Verfassungsexperten.

Selbst viele Befürworter der Reform argumentieren zwar, dass Erdoğans politisches Handeln im Moment nicht durch die Gesetze gedeckt ist. Die Lösung sehen sie allerdings nicht darin, dass Erdoğan sich entsprechend der Verfassung verhält, sondern in einer Reform der Gesetzestexte selbst: So würde die Machtanmaßung des Präsidenten juristisch aufgefangen.

Was kritisiert das Nein-Lager?

Besonders umstritten ist, dass der Präsident künftig nicht mehr über der Parteipolitik stünde. Erdoğan könnte gleichzeitig erster Mann im Staate und Vorsitzender seiner Partei, der AKP, sein. In der Türkei werden Parteiämter meist von oben besetzt. Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Erdoğan innerparteiliche Kritiker wie den früheren Premier Davutoğlu kurzerhand absägt. Durch die Personalunion von Präsident und Parteichef würde seine Macht noch weiter anwachsen. Über die Parteilisten könnte er dann weit in die Zusammensetzung des Parlaments eingreifen.

Ein Abgeordneter der prokurdischen Opposition findet dafür deutliche Worte: "Damit der Präsident nicht zum kriminellen Diktator wird, bereitet man ihm eine gesetzesgemäße Diktatur." Kritiker führen außerdem an, dass die Reform den Ausnahmezustand verstetigen würde: Erdoğan könnte über weite Strecken per Dekret regieren. Auf dem Papier läge die letzte Entscheidung im Konfliktfall zwar beim Parlament - doch dafür müssten die Abgeordneten sich sicher sein, dass über ihren Amtsverbleib nur das Volk entscheidet.

Problematisch ist auch, dass der Präsident künftig großen Einfluss auf die Ernennung der wichtigsten Richterposten im Land haben würde. Kritiker sehen darin das Ende einer unabhängigen Justiz.

Die geplanten Verfassungsänderungen sind komplex und lassen sich kaum in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Für alle, die mehr wissen wollen, gibt es hier eine gute Übersicht.

Von welchem Ergebnis gehen die Prognosen aus?

In den Studien der türkischen Meinungsforschungsinstitute liegen "Nein"- und "Ja"-Lager seit Wochen nahezu gleichauf. Das bekannte Gezici-Institut veröffentlichte am Donnerstag seine jüngste Umfrage: Es sieht eine knappe Mehrheit (51,3 Prozent) für das "Ja"-Lager. Auch in zwei anderen, am Mittwoch veröffentlichten Umfragen lag die Zustimmung bei 51 bis 52 Prozent. Im Durchschnitt von acht Umfragen zeichneten sich 50,8 Prozent für ein "Ja" ab, wie eine Zusammenstellung der Nachrichtenagentur Reuters ergab.

Allerdings ist fraglich, wie repräsentativ die Ergebnisse wirklich sind. Kemal Özkiraz koordiniert Umfragen für das Akam-Meinungsforschungsinstitut. Seine Institution sieht derzeit das "Nein"-Lager vorne, mit 57 Prozent der Stimmen. Den Grund dafür erklärt er so: Viele Menschen hätten offenbar Angst, ihre wahre Meinung kundzutun. Das fiel den Meinungsforschern auf, als sie die Umfrageergebnisse auswerteten: Beamte hatten zu 90 Prozent mit "ja" geantwortet, eine ungewöhnlich hohe Zahl. Mit einem Zehntel der Befragten haben Özkiraz und sein Team deshalb zusätzliche Interviews geführt. Das Ergebnis: Am Sonntag wollten viele anders abstimmen, als im Fragebogen angegeben. Nachdem das Ergebnis um diesen Angst-Faktor bereinigt wurde, erreichte "Nein" plötzlich einen deutlicheren Vorsprung: 57 Prozent. Ob die Angst auch bei der Abstimmung selbst eine Rolle spielen könnte? Özkiraz glaubt das nicht, 90 Prozent hätten das im Interview verneint.

Sind die Wahlen fair?

Die OSZE beobachtet die Abstimmung in der Türkei mit einem Team von elf Leuten. Im Gespräch mit der SZ sagt die Leiterin der OSZE-Mission, es sei "auffallend", wie groß die Zuversicht im Land sei, dass frei gewählt werden kann. Als Indiz führt sie an, dass Politiker der fünf größten Parlamentsparteien - also auch der Opposition - den Wahlvorgang mitüberwachen dürfen. Das Vorgehen wäre auch typisch für Erdoğan. Denn in der Vergangenheit hatte er stets versucht, umstrittene politische Projekte mit dem Verweis auf Volkes Wille zu rechtfertigen - und tatsächlich hatte er die Bürger bei Wahlen meist auf seiner Seite.

Dass Wahlen frei von Manipulation stattfinden, muss nicht heißen, dass die Regierung sie nicht trotzdem beeinflussen kann. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand. Der Präsident kann seither per Dekret regieren. Infolge dessen haben mehr als 100 000 Menschen ihren Job verloren, darunter Lehrer, Polizisten, Soldaten, Beamte. Mehr als 150 Medienhäuser wurden geschlossen. Eine ausgewogene Berichterstattung, die beiden Lagern gleich viel Sendezeit einräumt, ist seither kaum mehr möglich. Journalisten, Regierungskritiker und Oppositionspolitiker sitzen in großer Zahl im Gefängnis.

All dies trägt zu einem Klima der Angst bei. Jüngst erst rückte Premierminister Yıldırım alle Unterstützer des Nein-Lagers in die Nähe von Terroristen. Unterstützer der "Nein"-Kampagne berichten von Übergriffen und Demonstrationsverboten. Und es kommt noch ein anderes Problem hinzu: Der Kurdenkonflikt im Südosten des Landes ist seit dem Sommer 2015 wieder aufgeflammt. Bis zu 500 000 Menschen mussten deshalb ihre Häuser verlassen. Viele von ihnen werden es womöglich nicht bis an die Urnen schaffen; andere sind an ihrem neuen Aufenthaltsort womöglich nicht registriert und können deshalb nicht wählen.

Welche Rolle spielen die Auslandstürken?

Betrachtet man die Skandale rund um Wahlkampfauftritte von AKP-Politikern in EU-Staaten, dann offenbar eine sehr große. Allein in Deutschland leben etwa 1,6 Millionen stimmberechtigte Türken, weltweit sind es fast drei Millionen. Sie durften in den vergangenen zwei Wochen in türkischen Konsulaten und an Grenzübergängen ihre Stimme abgeben. Bis Dienstag dieser Woche hatten das schon knapp 700 000 Auslandstürken getan. Das entspricht einer Wahlbeteiligung von 48,73 Prozent. An Grenzübergängen kann noch bis Sonntag gewählt werden, die Zahl könnte also weiter steigen. Insgesamt machen die Auslandstürken zwar nur etwa zwei Prozent der Wahlberechtigten aus, doch angesichts der knappen Umfrageergebnisse könnten sie das Zünglein an der Waage sein.

Das genaue Ergebnis wird erst am Sonntag bekannt - bis dahin bleiben die Urnen versiegelt. Die Deutschtürken gelten jedoch als AKP-nah, bei der Parlamentswahl 2015 schnitt die AKP in Deutschland mit knapp 60 Prozent der Stimmen besser ab als in der Türkei. Diesmal könnte das Ergebnis jedoch deutlich knapper ausfallen, da das Nein-Lager eigenen Angaben zufolge mehr Unterstützer mobilisieren konnte. Experten vermuten, dass auch hierzulande beide Lager etwa gleich groß sind. Erfreulich ist, dass die Wahlen vergleichsweise fair abgelaufen zu sein scheinen. Die größte Oppositionspartei CHP, in Deutschland als Verein organisiert, war in allen Wahlkommissionen vertreten.

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