Verfassungsgericht zur Online-Durchsuchung:Privatsphäre.de

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Verlierer? Gibt es nicht! Wie die Verfassungsrichter zu einem Computer-Grundrecht kamen, das sowohl von den Klägern als auch von den Beklagten gelobt wird.

Helmut Kerscher

Derselbe Ort, das gleiche Thema, ähnliche Szenen: Im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts erinnert an diesem Mittwoch vieles an die Verkündung des Volkszählungsurteils am 15. Dezember 1983. Auch dieses Mal geht es um ein neues Grundrecht gegen den staatlichen Zugriff auf persönliche Daten.

Mit Aktenordnern für den Schutz der virtuellen Welt: Die Kläger stritten gegen ein nordrhein-westfälisches Gesetz, das heimliche Online-Durchsuchungen erlaubt. (Foto: Foto: AP)

Und auch dieses Mal dominiert eine geradezu überschwängliche Begeisterung die Reaktionen der Beteiligten und des Publikums. Sogar der eher nüchtern-zurückhaltende SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Wiefelspütz spricht strahlend von einem "grandiosen Urteil", ja von einem "Geniestreich".

Ähnlich enthusiastisch äußern sich die Kläger: Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum sieht sich zum dritten Mal in Karlsruhe erfolgreich und nennt das eben präsentierte Computer-Grundrecht einen "Meilenstein in der Weiterentwicklung von Grundrechten."

Abseits des Trubels steht der Sachverständige Ulrich Sieber, der in der Verhandlung am 10. Oktober ziemlich genau für ein solches Ergebnis plädiert hat. Er lobt das Urteil als "sehr konkret und praktisch"; es werde Konsequenzen für viele Gesetze haben.

Und die Verlierer? Gibt es nicht. Das Gericht hat zwar gerade zentrale Bestimmungen des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetzes für nichtig erklärt, doch dessen Verfechter geben sich frohgemut. Geduldig erklären Innenstaatssekretär Karl Peter Brendel und Prozessvertreter Dirk Heckmann, warum das Urteil für sie nicht überraschend komme, und wie leicht es umzusetzen sei.

Sie picken sich gezielt jene Passage aus den fast 110 Seiten des Urteils heraus, in der das Gericht die Schutzpflicht des Staates für die Sicherheit seiner Bürger betont. Und wo das Gericht Verständnis für die Nöte des Verfassungsschutzes äußert, in Zeiten der digitalen Kommunikationsmittel gegen terroristische und extremistische Bedrohungen vorgehen zu müssen.

Fast alle übrigen Seiten des Urteils befassen sich mit den "neuartigen Gefährdungen der Persönlichkeit" durch die moderne Informationstechnik - und wie diesen zu begegnen sei. Das Gericht hat sich kundig gemacht über die Verbreitung und Leistungskraft von Computern, über ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung und über das Angebot im Internet.

Der Befund ist eindeutig: In Computern finde sich eine solche Vielzahl von Daten - über persönliche Verhältnisse, soziale Kontakte und ausgeübte Tätigkeiten -, dass Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Nutzers, ja sogar eine "Profilbildung" möglich sei.

So macht der Erste Senat schon recht früh im Urteil eine Gleichung auf, die alle weiteren Gründe durchzieht: Stärkere Gefährdung zieht ein stärkeres Schutzbedürfnis nach sich. So ähnlich las sich das auch im Volkszählungsurteil. Die "Bedingungen der modernen Datenverarbeitung" verlangten nach einem besonderen Schutz des Einzelnen, hieß es damals.

Die Vorgänger der heutigen Richter schufen deshalb unter Vorsitz von Präsident Ernst Benda das "Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung", das sie aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableiteten. Knapp 25 Jahre später ging der Senat unter Vorsitz des Präsidenten Hans-Jürgen Papier und unter der Federführung des Richters Wolfgang Hoffmann-Riem ähnlich vor.

Sie prüften die vorhandenen juristischen Instrumente und fanden, dass es eine Schutzlücke gebe. Weder der Schutz des Fernmeldegeheimnisses, noch die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung, noch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung reichten aus.

So schuf das Gericht ein weiteres Grundrecht, mit dem sperrigen Namen "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Es wird zwar nicht unter diesem Namen einen vergleichbaren Siegeszug durch Politik, Recht und Medien antreten wie sein Geschwisterrecht auf informationelle Selbstbestimmung, wohl aber unter einer Kurzform wie "Computer-Grundrecht".

Und noch etwas Neues erfand der Erste Senat, nämlich ein "zweistufiges Schutzkonzept" für den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Erstens müsse die Erhebung höchstpersönlicher Daten möglichst vermieden werden. Sollte dies technisch nicht möglich sein, müssten, zweitens, diese Daten "unverzüglich gelöscht werden". Wenn die Karlsruher Vorgaben in Gesetze Eingang finden, wird der Hauptverantwortliche des Urteils in Hamburg oder auf einer Mittelmeer-Insel sein: Der Richter Wolfgang Hoffmann-Riem geht Anfang April in den Ruhestand.

© SZ vom 28.02.2008/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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