Verfassungsgericht zu Lissabon-Vertrag:Die Sorge vor der nationalen Entmachtung

Es ist eins der wichtigsten Urteile in der Geschichte des höchsten deutschen Gerichts: Heute wird in Karlsruhe über Europas Zukunft entschieden. Über den Lissabon-Vertrag. Kern der Klagen von Gauweiler, Lafontaine und anderen: Furcht vor einem nicht zu bremsenden Machtzuwachs der EU.

H. Kerscher

Das Bundesverfassungsgericht verkündet an diesem Dienstag eines der wichtigsten Urteile seiner 58-jährigen Geschichte: Es entscheidet unmittelbar über die Vereinbarkeit deutschen Rechts mit dem EU-Reformvertrag von Lissabon und mittelbar über die Zukunft der EU sowie über die künftige Rolle des Verfassungsgerichts.

Verfassungsgericht zu Lissabon-Vertrag: Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin durch eine EU-Fahne: Das Bundesverfassungsgericht will seine Entscheidung über den Reformvertrag von Lissabon verkünden.

Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin durch eine EU-Fahne: Das Bundesverfassungsgericht will seine Entscheidung über den Reformvertrag von Lissabon verkünden.

(Foto: Foto: AP)

Kaum jemand rechnet mit einem glatten Nein des Verfassungsgerichts und damit einem Ende der EU-Reformbemühungen, die im Jahr 2005 an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert sind. Nach den Eindrücken aus der zweitägigen mündlichen Verhandlung erwarten die meisten Beobachter ein "Ja-aber-Urteil": Ja zum Vertrag, aber verbunden mit strengen Auflagen.

Die Frage lautet: Wie groß wird dieses Aber ausfallen? Ohne ein Ja aus Karlsruhe kann Deutschland den im Dezember 2007 beschlossenen "Lissabon-Vertrag" nicht ratifizieren und stünde damit weiter in einer Reihe mit Irland, Polen und Tschechien. Die übrigen 23 EU-Mitgliedstaaten haben ihre Ratifikationsurkunden bereits hinterlegt.

Insbesondere am zweiten Tag der mündlichen Verhandlung hatten auch die zunächst äußerst skeptischen Gerichtsmitglieder eine Art Grundsympathie für die EU-Reform erkennen lassen. Allerdings blieben erhebliche Zweifel an der von Befürwortern betonten Demokratisierung der EU und insbesondere an einer verfassungsrechtlich ausreichenden Mitwirkung des deutschen Gesetzgebers bestehen.

Zudem war das Gericht skeptisch über die Zunahme der EU-Kompetenzen inklusive seines Gerichts mittels einer "Flexibilitätsklausel"; auch die Erweiterung der EU-Zuständigkeit auf Gebiete des Strafrechts und der Strafverfolgung begegnete Vorbehalten.

Die Sorge um das Demokratieprinzip

Die vom Gericht ausgewählten sechs Klagen stammen von dem CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler, von der Bundestagsfraktion der Linken, dem ÖDP-Vorsitzenden Klaus Buchner und einer Vierer-Gruppe um Franz Ludwig Graf von Stauffenberg. Die unterschiedlich akzentuierten Anträge haben einen gemeinsamen Kern: die Sorge um das Demokratieprinzip.

Es sei durch eine Entmachtung des Bundestags und ein nicht mehr zu bremsendes Wachstum der EU-Kompetenzen verletzt, hieß es. Die mit dem Reformvertrag beabsichtigte Stärkung des EU-Parlaments reiche nicht aus. Schon jetzt habe die Kommission ein "Regime der Selbstermächtigung" errichtet, diagnostizierte Marcus C. Kerber als Sprecher der Stauffenberg-Gruppe. Gauweilers Prozessbevollmächtigter Dieter Murswiek nannte den Vertrag eine "gigantische Camouflage".

Die Klagen richten sich sowohl gegen das vom Bundestag und vom Bundesrat verabschiedete Zustimmungsgesetz als auch gegen Teile der Begleitgesetze. Der Vertrag wird von seinen Verfechtern - in der Verhandlung vertreten durch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Innenminister Wolfgang Schäuble - als Stärkung der EU gesehen. Deren Handlungsfähigkeit werde durch Mehrheitsentscheidungen verbessert.

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