Verfassungsgericht vehandelt über Wahlrecht:Morgen ist Bundestagswahl

Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass Karlsruhe das neue Wahlrecht kippen wird - und damit die Bundestagswahl 2013 zu Gunsten des Volkswillens beeinflusst. Schwarz-Gelb hat seine Reform durch das Parlament geboxt. Demokratische Tugenden wurden dabei k. o. geschlagen.

Heribert Prantl

Die Bundestagswahl 2013 findet in zwei Teilen statt. Die Wahl selbst ist der zweite Teil. Der erste Teil geht schon jetzt über die Bühne: An diesem Dienstag wird die Bundestagswahl vorentschieden: Vor dem Bundesverfassungsgericht wird darüber verhandelt, ob das neue Wahlrecht Recht ist.

Man muss kein Prophet sein, um zu wissen: Nein, das ist es nicht; es ist verfassungswidrig, weil es bei der Umrechnung der Stimmgewinne in Mandate das Ergebnis der Wahl grundgesetzwidrig verzerrt. Es ist reines Machtrecht, aber unreines Verfassungsrecht. Man muss, wie gesagt, kein Prophet sein, um dieses Urteil vorherzusehen. Aber man muss ein Prophet sein, um vorherzusagen, was daraus folgt. Es spricht viel dafür, dass die Richter als Nothelfer der parlamentarischen Demokratie die Fehler selbst beheben.

Es spricht viel dafür, dass die Richter die rechtlichen Regeln für die Bundestagswahl 2013 erstmals und einmalig selbst formulieren. Es spricht viel für ein solch richtergestütztes Übergangswahlrecht. Und es spricht viel dafür, dass die Richter dem Bundestag zugleich aufgeben, für alle folgenden Bundestagswahlen auf der Basis des von ihnen vorformulierten demokratischen Minimums ein neues demokratisches Maximum zu finden. Die Vor-Formulierung eines Übergangswahlrechts 2013 wäre ein Geschenk der dritten Gewalt an die erste.

Es könnte freilich sein, dass die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP, die das neue Wahlrecht vor einem halben Jahr in Kraft gesetzt haben, dieses Geschenk als aufgedrängte Bereicherung empfinden und als unvereinbar mit der Gewaltenteilung: Zur Gesetzgebung ist schließlich der Bundestag, nicht das Verfassungsgericht berufen. Im Fall des Wahlrechts geht es freilich weniger darum, den Bundestag in sein Recht zu setzen als das Volk.

Das Volk ist Ursprung der Staatsgewalt, von seinem Votum muss alle Macht ausgehen. Wenn sein Votum durch wahlrechtliche Berechnungen verbogen wird und der Gesetzgeber nicht willens ist, das zu reparieren - dann muss dies in aller Vorsicht ein Notdienst tun. Es wird dies ein heikles Unterfangen sein. Aber noch viel heikler wäre es, den Bundestag noch einmal nach verfassungswidrigem Recht wählen und diesen toxischen Bundestag dann die Kanzlerin oder den Kanzler wählen zu lassen.

Alte Fehler repariert und durch neue ersetzt

Genau das hat das Verfassungsgericht, von ganz vielen Staatsrechtlern heftig kritisiert, schon einmal gemacht; es wird das kein zweites Mal riskieren. Im Jahr 2008 hat es das Gericht akzeptiert, dass der Bundestag 2009 noch einmal nach verfassungswidrigem alten Wahlrecht gewählt wurde. Das Gericht wollte, dass der Bundestag viel Zeit hat, das Wahlrecht gründlich zu reformieren. Das ist nicht passiert. Das neue Wahlrecht ist daher so verfassungswidrig wie das alte. Es schafft das vermaledeite System der Überhangmandate nicht ab, sondern baut es noch aus. Es löst die Verpflichtungen nicht ein, die das Verfassungsgericht ihm auferlegt hat.

Das neue Wahlrecht hat zwar Fehler des alten repariert, aber dabei durch neue ersetzt. Es gewährleistet die Gleichheit der Wahl so wenig wie das alte, verstößt also gegen Artikel 38 des Grundgesetzes. Es proklamiert zwar, dass alle Parteien vor dem Gesetz gleich sind; aber es rechnet das Wahlergebnis so in Mandate um, das große Parteien gleicher sind. Es begünstigt klar diejenige Partei, die bei der Wahl die stärkste ist und gibt ihr zusätzliche Mandate. Das geltende System mit seinen Erst- und Zweitstimmen hat so lange noch einigermaßen funktioniert, als es zwei große und ein, zwei kleine Parteien gab. Seitdem die Volksparteien schrumpfen und sich ein Fünf- und Sechs-Parteien-System etabliert, werden aus kleinen und mittleren Fehlern des Wahlsystems große und gewaltige.

Es kann heute passieren, dass eine Partei mit 30 Prozent der Zweitstimmen fast alle Direktmandate abräumt - und damit Überhangmandate en masse erhält. Direktmandate kann man gegenwärtig, bei fünf Fraktionen im Bundestag, mit 21 Prozent der Stimmen erringen. Ex-Bundespräsident Roman Herzog sagt zu Recht, dass eine Parlamentswahl, bei der ein großer Teil der direkt gewählten Abgeordneten mit ziemlich niedrigen Prozentzahlen gewählt wird, ungerecht ist. Er schlägt vor, dass ein Abgeordneter, der nicht mehr 40 oder 50 Prozent der Erststimmen in seinem Wahlkreis hat, sich mit dem Nächststarken in einer Stichwahl bewähren muss. Solchen und anderen Fragen der demokratischen Ur-Gerechtigkeit hat sich der Gesetzgeber bisher nicht widmen wollen.

Stattdessen wurde 2011 im Bundestag ein neu-altes, extrem verworrenes Wahlrecht auf Biegen und Brechen durchgeboxt; die demokratischen Tugenden wurden dabei k.o. geschlagen. Zu diesen Tugenden gehört es, das Wahlgesetz von möglichst allen Parlamentsparteien verabschieden zu lassen. Aus dieser Akzeptanz erwächst Legitimität. Das Wahlrecht hat diese Legitimität nicht, weil es im Kern ungerecht ist. Es schüttelt die Stimmen so seltsam und so lange, bis die einen schwerer wiegen als die anderen. So gerät die parlamentarische Demokratie in Turbulenzen. Wenn es nicht anders geht, muss das Verfassungsgericht für Beruhigung sorgen. Es muss, im Namen des Volkes, das Wahlvolk ins Recht setzen.

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