USA und Russland:Einer der wichtigsten Abrüstungsverträge wackelt

Military Parade on Red Square

Auch noch 30 Jahre nach dem Verbot bestimmter Atomraketen fahren für sie geeignete Trägerfahrzeuge bei Paraden in Moskau mit. (Archivbild)

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland, der INF-Vertrag von 1987, wackelt.
  • Der Vertrag verbietet Atomraketen mit kurzer und mittlerer Reichweite. Russland und die USA beschuldigen sich gegenseitig, heimlich gegen die "doppelte Nulllösung" zu verstoßen.
  • Die Nato sortiert bereits ihre Optionen für einen neuen Kalten Krieg. Sie reichen von gegenseitigen Inspektionen über den Einbezug anderer Länder bis hin zu einem neuen Aufrüstungswettbewerb.

Von Georg Mascolo

Wann immer in diesen Tagen das Wort von einem neuen Kalten Krieg fällt, liegt die Erinnerung daran nahe, wie die Konfrontation zwischen Ost und West einst zu Ende ging. Wegmarken wie das Durchtrennen des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich und natürlich der Fall der Mauer sind in Erinnerung geblieben. Ein ebenso bedeutsames Ereignis, fast zwei Jahre zuvor, ist dagegen beinahe in Vergessenheit geraten.

Vor einem Kaminfeuer im Weißen Haus unterschrieben der damalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 den sogenannten INF-Vertrag. INF steht für "Intermediate-Range Nuclear Forces", bodengestützte Waffensysteme kurzer und mittlerer Reichweite, von 500 bis 5500 Kilometer. Im Kriegsfall wären sie wohl vor allem auf deutschem Territorium zum Einsatz gekommen. Je kürzer die Raketen, desto toter die Deutschen, hieß deshalb jahrelang einer der Schlachtrufe der damals mächtigen Friedensbewegung.

Mit dem INF-Vertrag wurde erstmals eine ganze Waffenkategorie verboten. Innerhalb von nicht einmal drei Jahren wurden 2692 Raketen verschrottet, 1846 kamen aus der Sowjetunion. Bis heute gilt die Vereinbarung als entscheidender Eckpunkt der Rüstungskontrolle und atomaren Abrüstung. In keinem Land war die im Nato-Doppelbeschluss zunächst getroffene Entscheidung, solche Waffen zu stationieren, so umstritten wie in Deutschland - und kein Land profitierte von dem INF-Vertrag so sehr wie Deutschland. Es war die Friedensdividende, die mit dem Ende der Block-Konfrontation einherging.

Obama warnte vor einer neuen Spirale der Aufrüstung

Umso beunruhigter registriert die Bundesregierung, dass ausgerechnet diese Vereinbarung nun infrage steht. In den USA und auch in Teilen des Nato-Bündnisses gibt es Überlegungen, mit einem Ausbau der nuklearen Abschreckung auf einen seit Jahren vermuteten Bruch des INF-Vertrages durch Russland zu reagieren. Russland wiederum beklagt ebenfalls, dass die Amerikaner die Vereinbarung unterlaufen.

Der Streit ist bereits älteren Datums, aber nun droht er zu eskalieren. Erste Hinweise darauf, dass Russland einen neuen bodengestützten Marschflugkörper namens SSC-8 entwickelt, getestet und später auch stationiert haben soll, haben die USA bereits 2008 von ihren Geheimdiensten erhalten. 2011 gab man sich sicher, 2014 schrieb Barack Obama an Wladimir Putin und bot Verhandlungen an, man müsse eine neue Spirale der Aufrüstung verhindern. 2016 verlangten die Amerikaner die Einberufung des sogenannten Special Verifications Committees, um den Streit zu schlichten. 13 Jahre lang hatte die Kommission, die über die Einhaltung des INF wachen soll, zuvor nicht getagt.

Die USA und Russland wollen ihre Atomarsenale modernisieren

Alle bisherigen Verhandlungen gelten als gescheitert, stattdessen werden Vorwürfe ausgetauscht. Russland bestreitet den Bruch und verweist seinerseits auf eine in Rumänien und bald auch in Polen bereits einsatzbereite Raketenabwehr. Moskaus Verdacht ist, dass sich die Raketen gegen Russland richten können. Die USA sagen, diese seien nur geeignet, um etwaige Bedrohungen aus Iran zu bekämpfen.

Die Eiszeit in den Beziehungen und die Ankündigungen aus den USA und Russland, die Atomwaffenarsenale umfassend zu modernisieren, haben die Lage weiter erschwert. Zu dem wenigen, worauf sich Demokraten und Republikaner in diesen Tagen in Washington einigen können, gehört, Russland entschieden entgegenzutreten. Im Kongress wurden bereits die ersten gesetzgeberischen Schritte eingeleitet, dass die USA 2019 den INF-Vertrag aufkündigen könnten - dann würde drohen, dass die USA neue Raketen bauen und auch in Europa stationieren. Großes droht ins Rutschen zu kommen, "Europa steht am Rand eines neuen nuklearen Zeitalters," warnt der aus Hamburg stammende und am Carnegie-Institut für Internationalen Frieden in Washington forschende Nuklearexperte Ulrich Kühn im Bulletin of the Atomic Scientists. Die "schwelende Krise" um den INF-Vertrag sei die größte Herausforderung.

Vorschläge von "denkbar"bis "nicht ratsam" werden diskutiert

In dieser Lage haben nun auch in der Nato Überlegungen zu geeigneten Reaktionen begonnen. Allen Mitgliedstaaten wurde ein sogenanntes "Optionspapier" übermittelt. Noch haben die offiziellen Beratungen nicht begonnen, ein Sprecher der Allianz erklärte auf Anfrage nur, es herrsche "ernste Besorgnis". Russland müsse konstruktiv zur "Lösung dieses entscheidenden Themas beitragen".

Schon im Herbst, so sagen es Diplomaten, könnten förmlichere Beratungen in der Nato stattfinden, die USA machen Druck. Für diese mögliche Diskussion nun gibt es 39 Vorschläge, sorgsam unterteilt in Kategorien zwischen "denkbar", "derzeit zu vermeiden" und "nicht ratsam" - ein Kompendium aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Wie stets, wenn es um nukleare Fragen geht, sind alle Vorschläge vertraulich, aber viele ähneln denen, die in Washington bereits ganz offen im US-Kongress diskutiert werden. Manches zeige, so sagen Nato-Diplomaten, wie ernsthaft das Bündnis nach einer politischen Lösung für die Krise suche. Andere Vorschläge ließen eher frösteln. Mancher in Brüssel befürchtet, dass US-Präsident Donald Trump eine Vorliebe für die schärfsten Vorschläge entwickeln könnte.

Ronald Reagan, Mikhail Gorbachev

1987 einigten sich Michail Gorbatschow (li.) und Ronald Reagan (re.) auf das Verbot gewisser Atomraketen.

(Foto: Bob Daugherty/AP)

Die diplomatischen Überlegungen sind weitreichend. Im Westen ist bekannt, dass Russland den INF-Vertrag schon lange für einen Fehler hält, schließlich besitzen viele andere Atommächte solche Waffen. 2004 schlugen sie den Amerikanern vor, gemeinsam auszusteigen. 2007 scheiterte ein gemeinsamer Versuch von Russen und Amerikanern, den Vertrag zu internationalisieren. Niemand wollte mitmachen.

Diplomatische und militärische Überlegungen sind weitreichend

Die Überlegungen kreisen nun darum, diesen Versuch wieder zu beleben, China und Indien einzubeziehen. Zur Diskussion steht auch, Russland anzubieten, den INF-Vertrag auf Europa zu begrenzen - im Osten des Landes könnte der Kreml dann Kurz- und Mittelstreckenraketen stationieren. Klug klingt auch der Gedanke, gegenseitig für volle Transparenz zu sorgen, womöglich gar Inspektionen zu erlauben. Amerikaner und Russen könnten sich dann vor Ort selbst ein Bild machen und überprüfen, ob es den von ihnen vermuteten Bruch des Vertrages wirklich gibt. Ein Muster also ähnlich den Inspektionen zum INF-Vertrag, die allerdings 2001 endeten.

Ähnlich weitgehend wie die diplomatischen Überlegungen sind nach Angaben aus Nato-Kreisen auch die militärischen. Mehr als ein Dutzend Vorschläge stehen in dem Papier, die aus Nato-Sicht mit dem Vertrag vereinbar wären. Viele würden die angespannten Beziehungen jedoch weiter verschärfen. Sie reichen von verstärkter Rotation von B-2- und B-52-Bombern aus den USA nach Europa, einem Ausbau der Frühwarnsysteme und der Raketen- oder U-Boot-Abwehr. Auch ist davon die Rede, militärische und zivile Infrastruktur gegen Angriffe zu härten, darunter Häfen und Flughäfen. Man geht in Verteidigungshaltung und zeigt zugleich, dass man bereit ist und fähig zurückzuschlagen: "Nuclear signaling" nennen das die Militärs, und all diese Vorschläge gelten als "denkbar".

Auch deutsche Piloten könnten atomar bewaffnete Jets fliegen

Besonders heikel sind zwei Überlegungen: die sogenannte nukleare Zielplanung auszubauen - also bereits die Ziele für Atomwaffen aufzuklären und festzulegen. Hier rät auch die Nato zur Vorsicht. Anders als bei dem Gedanken, die Einsatzbereitschaft für jene Flugstaffeln zu erhöhen, die im Kriegsfall die Bomben abwerfen würden.

Im Rahmen der sogenannten "nuklearen Teilhabe" könnte dies auch auf deutsche Piloten zukommen, zu diesem Zweck lagern bis heute auch amerikanische Bomben vom Typ B 61 auf einem von der Bundeswehr betriebenen Standort im rheinland-pfälzischen Büchel. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat gerade gefordert, diese abzuziehen, so wie vor ihm schon erfolglos der frühere Außenminister Guido Westerwelle. In den USA scheint man sich hingegen sogar vorstellen zu können, den Kreis der europäischen Länder auszuweiten, die an dem System beteiligt sind. Bisher lagern amerikanische Atombomben in vermutlich sechs europäischen Ländern.

Viel wird nun von den Diskussionen innerhalb der USA und Europas abhängen. Vor allem die Osteuropäer drängen schon lange, Russland entschiedener entgegenzutreten. Im US-Kongress wurden bereits Stimmen laut, die ein Ende des INF-Vertrages fordern. Per Gesetz könnte Trump gezwungen werden zu erklären, die USA würden den Vertrag aufkündigen, weil Russland ihn gebrochen habe. Dann wären wohl auch jene Maßnahmen denkbar, die bisher in der Kategorie "nicht ratsam" zu finden sind: Bau, Test und Stationierung einer neuen Klasse Raketen oder Marschflugkörper - ein weiterer Schritt hinein in einen neuen Kalten Krieg.

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