USA:Sieben Kugeln zu viel

Warum mussten Quintonio LeGrier und Bettie Jones sterben? Der Tod zweier Schwarzer in Chicago an Weihnachten facht die US-Debatte um Polizeigewalt erneut an. Der raubeinige Bürgermeister von Chicago steht unter Druck.

Von Sacha Batthyany, Washington

Am Samstagmorgen ging bei der Polizei in Chicago ein Notruf ein. "Mein Sohn greift mich mit einem Baseballschläger an", soll der Vater am Telefon gesagt haben, wenige Stunden später war der Sohn tot: Quintonio LeGrier, 19 Jahre alt, Student an der Northern Illinois Universität, starb durch die Kugeln von Polizisten, er war, abgesehen von dem Schläger, unbewaffnet und galt gemäß seinen Eltern als psychisch labil. Eine Nachbarin im ersten Stock, Bettie Jones, 55, eine fünffache Mutter, kam ebenfalls ums Leben.

Noch ist nicht restlos geklärt, was genau geschehen ist, es heißt, die Frau wollte den Polizisten nur die Tür aufmachen und stand wohl "irgendwie zu nahe am Geschehen", wie ihr Bruder Melvin Jones sagte, für den feststeht: "Zwei Menschen starben, die nicht hätten sterben müssen."

Die Mutter des Jungen, Janet Cooksey, die während der Schießerei nicht in der Wohnung war, sagte: "Ich sah meinen toten Sohn im Spital. Er hat sieben Kugeln im Körper, es sind sieben zu viel." Er habe sich manchmal nicht kontrollieren können und sei laut geworden, räumte sie ein, "aber er war kein gewalttätiger Mensch".

Gemäß Guardian starben in diesem Jahr mehr als 1100 Menschen in den USA durch Polizeigewalt, die Jüngsten waren erst 16 Jahre alt. Bei 40 Prozent der Toten handelt es sich, so wie bei Quintonio LeGrier und Bettie Jones, um Afroamerikaner. Etwa ein Drittel aller Opfer galt als psychisch angeschlagen, einige litten an Depressionen und nahmen Medikamente. "Man sollte meinen, die Polizei beschützt das Leben unserer Kinder. Aber das Gegenteil ist der Fall", sagte die Mutter von LeGrier. "Sie erschießen sie alle."

Seit Monaten wird über die Brutalität der Polizei in den USA diskutiert, keine Woche vergeht, ohne dass irgendwo ein Handy-Video auftaucht, das die Überforderung einiger Gesetzeshüter offenbart. Ende 2014 gingen in der Kleinstadt Ferguson Hunderte Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus zu demonstrieren, der der Polizeigewalt zugrunde liege, so behauptet es die Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter. Es folgten Ausschreitungen in Baltimore und New York - und jüngst in Chicago, der Stadt, in der am Wochenende LeGrier und Bettie Jones starben.

Seit Ende November versammeln sich hier Menschen zu meist friedlichen Protestmärschen, nachdem bekannt worden war, dass ein Polizist 16 Schüsse auf einen am Boden liegenden afroamerikanischen Teenager namens Laquan McDonald abfeuerte. Die Tat liegt ein Jahr zurück. Lange hieß es, McDonald sei mit einem Messer auf einen Polizisten zugestürmt, doch ein erst zurückgehaltenes Video beweist nun, dass er unbewaffnet war und am Boden lag, als man auf ihn schoss. Die Hinweise häufen sich, dass die Stadtbehörden systematisch versuchten, den Vorfall zu vertuschen. So wurde die Untersuchung über Monate verschleppt, Polizisten sollen Zeugen mit Drohungen verscheucht haben, außerdem sind Bilder einer Überwachungskamera unter angeblich mysteriösen Umständen verschwunden, die den Tathergang gezeigt haben sollen.

Rahm Emanuel, Chicagos Bürgermeister, ein für seine Raubeinigkeit bekannter früherer Stabschef von Barack Obama, hat zwar den Polizeichef der Stadt entlassen, die Proteste aber hielten auch über Weihnachten an. Vor allem jugendliche Afroamerikaner berichten, sie hätten jegliches Vertrauen in ihren Bürgermeister und in die Behörden der Stadt verloren. Der Tod von Quintonio LeGrier und Bettie Jones vor zwei Tagen "wird die bereits angespannte Situation wahrscheinlich weiter verschärfen", sagte Ana Pacheco, eine Sprecherin der Polizei, und sie versprach, den jüngsten Vorfall "lückenlos zu untersuchen".

"Was das bedeutet, kennen wir ja", winkte die Mutter des getöteten LeGrier ab. "Monate werden vergehen, wenn überhaupt, bis wir erfahren, was passiert ist. Und lebendiger wird deshalb mein Sohn nicht."

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