In den Siebzigern sind einige der größten Popsongs entstanden. Aus dem Jahr 1977 etwa stammt "Just One Me": Darin besingt ein großer, dickbäuchiger Vogel, wie einmalig er ist, und wie einmalig seine kleinen Zuhörer sind, jeder mit seinem eigenen Lachen. Am Ende verhaspelt sich Big Bird zwar wie immer, doch jedes Kind weiß nun, was die Zahl 1 ist, und hat noch dazu das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Nie mehr war Mathematik so schön, außer vielleicht, als Ernie und Bert "eins und eins sind zwei" sangen.
Die "Sesamstraße", wie sie damals entstand, zeigt Amerika von seinen besten Seiten: fröhlich, optimistisch, erfinderisch. Die Idee lautet, dass Fernsehen, wenn es schon süchtig macht, wenigstens nützlich sein soll. Jim Hensons Puppen lehren also nicht nur Zahlen und Buchstaben, sondern auch, sich und andere zu achten. Etliche Amerikaner haben erste spanische Worte von Maria gelernt, der netten Latina aus "Sesame Street".
Nun möchte Mitt Romney Präsident des Landes werden, indem er dem öffentlichen Sender PBS, wo die "Sesamstraße" läuft, die Zuschüsse streicht, Big Bird also den Hals umdreht. Romney hat das im ersten Fernsehduell mit Barack Obama angekündigt, er klang freundlich und bedauernd, wie der Chef, der sich leider von einem trennen muss, obwohl man doch für die Firma so wichtig sei. Der frühere CEO Romney möchte für die "Sesamstraße" kein "Geld von China leihen". Auf solch irre Gedanken muss man erst mal kommen - vor 67 Millionen Wählern, die noch nicht gewählt haben.
Sesamstraße und Sozialismus
Es fügt sich ein in die republikanische Kürz- und Sparideologie, unter deren Verfechtern Romney noch zu den moderateren gehört. Sein Vize Paul Ryan würde die US-Bundesregierung so zusammenstutzen, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen wäre. Nun kostet die "Sesamstraße" den Staat gerade mal acht Millionen Dollar im Jahr, aber etliche Republikaner finden grundsätzlich, dass beim öffentlichen Fernsehen der Sozialismus beginnt. Sie finden es normal, dass ihre Kinder von kommerziellen Sendern mit Werbespots zugeschüttet werden, oder sie kaufen eben Filme auf DVD. Ärmere Familien, in denen frühkindliche Bildung fehlt, können sich das nicht leisten. Aber das ist nach Republikanerlogik deren Fehler.
Achtzig Prozent der amerikanischen Kinder sehen die Programme von PBS. Die "Sesamstraße" aber ist vielen Rechten unheimlich, weil sie Kinder angeblich einer liberalen Gehirnwäsche unterzieht. Dort geht es bunt und multikulturell zu, und ein Leitmotiv der Sendung ist es, mit anderen zu teilen. Eine Karikatur in der (eher linken) "Daily Show" zeigt treffend, wie es aus konservativer Sicht zugehen müsste: In der "Straße der Patrioten" (Sesam klingt zu orientalisch) sagt das Mädchen, sie teile ihr Schulbrot, worauf die Puppe antwortet: "Was? Damit schaffst du ja eine Kultur der Abhängigkeit." Jene Abhängigkeit, die Romney meinte, als er sagte, 47 Prozent der Wähler sähen sich als Opfer und wollten Geld vom Staat.
Dramatische Trivialisierung
Bei einer solchen Vorlage hätte der nette Ernie Obama im Duell mit dem spröden Bert Romney die Wahl entscheiden können. Er hätte sagen sollen: "Habe ich Sie gerade richtig verstanden, dass Sie 'Sesame Street' kippen möchten, während Sie der Wall Street jede Freiheit gönnen?" Obama aber war in diesem Moment, wie auch in allen anderen während der Debatte, woanders. Er hat es Romney erlaubt, den Sanierer zu spielen, der Big Bird zwar - angeblich - liebt, aber in schwierigen Zeiten Opfer von allen verlangt.
Big Bird gehört den Kindern
Seitdem passieren zwei Dinge: Erstens holt Romney in den Umfragen so schnell auf, dass Obama zum ersten Mal bangen muss. Zweitens kämpft Obama dagegen an, indem er Big Bird zum Maskottchen erhebt und in Werbespots lästert, Romney habe die echte Gefahr für die Weltwirtschaft entdeckt, er rotte das Übel aus, "wo auch immer es nistet". Aber die Replik kommt zu spät, sie klingt, wie schlechte Verlierer klingen.
Die Republikaner bemühen dagegen Graf Zahl, der mitschreibt, wie oft Obama Big Bird nennt und wie selten Libyen. Und überhaupt reden Politik und Meinungsindustrie nur noch in Sesamstraßen-Metaphern. Für den Wahlkampf ist das nicht weiter schlimm: Es ist nur der neueste Höhepunkt einer ohnehin dramatischen Trivialisierung (den Begriff "Infantilisierung" sollte man vermeiden, er wäre eine Beleidigung für alle Kinder). Schlimm ist es eher für Obama: Statt über die Arbeitslosenquote zu reden, die zum ersten Mal unter acht Prozent gefallen ist, verläuft er sich auf dem Spielplatz.
Man sollte jetzt dem Wunsch der Produzenten folgen und die "Sesamstraße" aus dem Wahlkampf heraushalten. Big Bird ist einmalig. Er gehört den Kindern. Man muss ihn vor der Politik retten.