US-Wahlkampf:Fetisch Transparenz

Was müssen Wähler über einen Kandidaten wissen? Bestimmt nicht seine aktuelle Fiebertemperatur. Amerikas Wahlkämpfer übertreiben es: Die Bürger haben ein Recht auf Information, nicht Entblößung.

Von Hubert Wetzel

Hillary Clinton trinkt nicht genug. Das ist, unterm Strich, die Erklärung der demokratischen Präsidentschaftskandidatin, warum sie am Sonntag zusammengebrochen ist. Zu wenig Wasser, zu viel Sonne, dazu eine Lungenentzündung, am Ende aber alles halb so wild. Am Montag sammelte Hillary Clinton übers Telefon bereits wieder Spenden ein und gab Interviews.

Aber natürlich ist die Sache damit nicht erledigt. In den kommenden Tagen wird Amerika noch einiges über Clintons Gesundheitszustand erfahren. Da wird es Arztbriefe geben und Auszüge aus Krankenakten. Medizinisch kompetente Kommentatoren und solche, die sich dafür halten, werden jeden Fachbegriff drehen und wägen und erklären. Ob ein Laie mit diesem Wust an Informationen dann viel anfangen kann, sei einmal dahingestellt.

Aber es geht bei der ganzen Debatte ja auch gar nicht um Medizin, sondern um Politik. "Transparenz" ist in der amerikanischen Politik zu einem Fetisch geworden, der von der Öffentlichkeit angebetet wird und dem die Hohepriester in den Medien täglich, stündlich huldigen - weitgehend unabhängig davon, ob das Offengelegte irgendeine politische Relevanz hat. George W. Bush hat als junger Mann Kokain geschnupft, Barack Obama hat gekifft. Ließ sich aus dem Wissen darüber etwas über ihre Drogenpolitik ableiten? Nein.

Die Wähler haben ein Recht auf Information, nicht Entblößung

Der Zwang, sein Leben vor den Wählern auszubreiten, betrifft die intimsten Bereiche - Gesundheit, Vermögen, Familie, Ehe. Ein Kandidat, der dabei nicht mitmachen will, sieht sich sofort dem Vorwurf ausgesetzt, etwas Düsteres verbergen zu wollen. Wo vielleicht nur der legitime Wunsch besteht, einen kleinen, letzten Teil des Privatlebens privat zu halten, sehen die Hüter der Transparenz das gottgegebene Recht der Allgemeinheit verletzt, alles, alles, alles zu wissen.

Nun ist "Transparenz" einer jener Begriffe, die per se gut und positiv klingen. Wer kann schon gegen Offenheit sein? In Wahrheit aber sind die Grenzen zwischen dem, was die Wähler über einen Kandidaten wissen müssen, was sie wissen sollten und was sie vielleicht nur wissen wollen, weil sie neugierig sind, sehr fließend.

Clintons Gesundheit ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel: Wenn eine Kandidatin am Straßenrand zusammenbricht, haben die Bürger durchaus das Recht, medizinisch fundiert darüber informiert zu werden, ob diese Kandidatin vier Jahre an der Regierungsspitze durchhalten kann. Der Rest von Clintons Krankengeschichte hingegen, ihre Schilddrüse, ihre Thrombosen, sind ihre Privatsache, sofern sie sich nicht auf ihre Arbeit auswirken. Rückwirkend betrachtet war es sicher ein taktischer Fehler von Clinton, ihre Lungenentzündung verheimlichen zu wollen, weil erst das zu dem Schwächeanfall und dem PR-Debakel geführt hat. Trotzdem war es ihr Recht, die Krankheit zu verschweigen.

Man könnte Ähnliches über Donald Trump sagen. Mehrere Medien klagen derzeit im Namen des öffentlichen Interesses auf Herausgabe der Scheidungsakten des republikanischen Kandidaten. Aber was ist dieses öffentliche Interesse anderes als Gafferei? Ob Trump ein sympathischer Mensch ist oder nicht, davon kann sich jeder Wähler bei einem Auftritt des Kandidaten ein Bild machen. Sofern er in seiner früheren Ehe keine strafrechtlich relevanten Dinge getan hat, wofür es keine Hinweise gibt, muss er "der Öffentlichkeit" über seine gescheiterten Beziehungen keine Rechenschaft ablegen.

Bei Trumps Vermögen sieht es etwas anders aus. Vermutlich hat der Kandidat in den vergangenen Jahren jeden Kniff angewandt, um möglichst wenig Steuern zu zahlen. Das ist ihm heute peinlich, deswegen weigert er sich, seine Steuerunterlagen zu veröffentlichen. Nun könnte man sagen: Solange Trump keine Steuern hinterzogen, sondern nur legale Gesetzeslücken ausgenutzt hat, ist sein Steuerbescheid eine Angelegenheit zwischen ihm und dem Finanzamt. Allerdings: Wer Steuern trickreich vermeidet, schädigt damit die Allgemeinheit. Irgendjemand muss dem Staat den Topf ja mit Gold füllen. Die Amerikaner haben also ein berechtigtes Interesse zu wissen, wie der mögliche künftige Präsident Trump es mit seinen Steuerpflichten hält.

Wähler, noch viel mehr Journalisten, suchen gerne in den privaten Angelegenheiten eines Kandidaten nach Hinweisen, wie dieser Mensch als Politiker wohl sein wird. Die enttäuschende Wahrheit ist: Man findet diese Hinweise nur sehr selten. Bush ist seinen Töchtern ein guter Vater. Obama ist seinen Töchtern ein guter Vater. Bill Clinton hat seine Ehefrau betrogen. Donald Trump hat seine Ehefrau betrogen. Man kann all das wissen - und weiß doch nichts über die politischen Ansichten dieser Männer. Transparenz führt eben nur bedingt zu Erkenntnis.

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