US-Raketenschutzschild:Die Achse der Verblendeten

Ein Raketenschutzschild gegen Iran ist überflüssig, da das Land keinen Angriff auf den Westen riskieren kann. Das Abwehrsystem hätte nur Sinn, wenn man unterstellt, dass in Teheran komplett Verrückte über Leben und Tod ihres Volkes entscheiden.

Erhard Eppler

Wer die Rüstungs- und Abrüstungsdebatten des Kalten Krieges miterlebt hat und versucht, die Raketenabwehrdebatte von heute zu verstehen, reibt sich verwirrt die Augen: Habe ich damals alles falsch verstanden, oder bin ich heute nicht mehr ganz auf der Höhe?

Damals standen sich zwei hochgerüstete Atommächte gegenüber, die beide das Potential hatten, die andere Seite tödlich zu treffen, ja mehrfach zu vernichten. Damit keine Seite in Versuchung geriet, musste jede Seite die Fähigkeit haben, auch nach einem Vernichtungsschlag der anderen noch zurückzuschlagen.

Es musste gewährleistet sein, dass Mord notwendig auch Selbstmord bedeutete. Die Sicherheit der USA beruhte also nicht darauf, dass sie die sowjetischen Raketen abfangen konnte, sondern auf der Fähigkeit, auch im schlimmsten Fall noch zurückschlagen zu können.

Dass wir den Kalten Krieg überlebt haben, dürfte zu einem guten Teil diesem Tatbestand zu verdanken sein, und auch dem sehr dürftigen Erfolg der Vereinigten Staaten bei dem Bemühen, sich durch einen Raketenschild den entscheidenden Vorteil zu verschaffen.

Der Unverwundbare ist Herr über alle anderen

Natürlich war das, was zu Zeiten des Präsidenten Ronald Reagan unter "Star Wars" lief, erst einmal defensiv angelegt. Aber hätte diese Defensive funktioniert, wäre die Offensive wieder möglich geworden. Dies erklärt die extreme Sensibilität der Russen gegenüber allen Raketenabwehrsystemen. Wer unverwundbar wäre, wäre der Herr über alle anderen. So war das schon bei Siegfried in der Nibelungensage.

Nur: Es blieb die verwundbare Stelle, wo ein Lindenblatt das Drachenblut abgehalten hatte. Auch auf den zähen Körper von Uncle Sam sind Lindenblätter gefallen, ziemlich viele, und die Folgen bleiben. Aber er konnte und kann zurückschlagen.

Heute wird argumentiert, Iran könne, entgegen seinen Zusicherungen, in einigen Jahren vielleicht doch eine Rakete (oder gar deren zwei oder drei?) mit atomaren Sprengköpfen auf die USA abfeuern. Daher brauche man einen Abwehrschirm. Europa, näher an Iran gelegen, ist nicht auf eine solche Idee gekommen - so etwas ist sündhaft teuer. Aber vielleicht könnte es ja davon profitieren.

Wer die Debatten der siebziger Jahre nicht vergessen hat, dürfte einwenden: Was auch immer Iran in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren errüsten kann oder will - es wird weit entfernt sein von der Fähigkeit, die Vereinigten Staaten zu vernichten, noch weiter davon, einen Gegenschlag von dort zu verhindern.

Dies aber bedeutet, dass die erste Rakete auf die USA innerhalb von Stunden zur Zerstörung sämtlicher iranischer Großstädte sowie der gesamten Infrastruktur führen müsste. Was für die Sowjetunion mehrfach ausgereicht hätte, reicht für Iran allemal. Wenn die Verantwortlichen dort sich dies nicht ausrechnen könnten - was höchst unwahrscheinlich ist -, könnte man es ihnen sagen.

Die Achse der Verblendeten

Daher hat ein Raketenschutzschild gegen Iran nur einen Sinn, wenn man unterstellt, dass in Teheran komplett Verrückte über Leben und Tod ihres Volkes entscheiden. Man mag dabei auf die fanatischen Tiraden des iranischen Präsidenten verweisen, ihn als einen Terroristen, einen Bin Laden als Staatspräsidenten, einen Selbstmordattentäter im Amt einstufen. Aber nur, wenn man einen Denkfehler begeht, der sich aus der Ideologie der Bush-Regierung ergibt.

Bin Laden ist so gefährlich, so schwer zu besiegen, eben weil er keinen Staat vertritt, für kein Territorium, für kein Staatsvolk verantwortlich ist. Er kann überall zuschlagen und ist nirgends zu treffen. Wenn er zuschlagen lässt, weiß der Getroffene anschließend nie, worauf er seinen Vergeltungsschlag richten könnte. Deshalb könnte atomarer Terror unsere Zivilisation tief verwunden.

Auch ein Gottesstaat ist ein Staat

Der iranische Präsident jedoch ist der - übrigens frei gewählte - Repräsentant eines großen Staates. Auch ein Gottesstaat ist ein Staat. Auch dort gibt es eine Staatsräson. Und die spricht auf alle Fälle gegen den Untergang des Landes. Ein Präsident hat weder das Recht noch praktisch die Möglichkeit, seinem Volk den offenkundigen Selbstmord zu verordnen.

Eine gewaltige Überlegenheit an atomaren Waffen gibt den USA heute wie vor 40 Jahren Sicherheit, auch vor iranischen Raketen. Solange den mehr als 50 Millionen Iranern ihr Leben lieb ist, eine Sicherheit von 99 Prozent. Mehr gibt es auf dieser Erde ohnehin nicht. Und ein Raketenschild bliebe weit unter den 99 Prozent.

Dass eine so simple Überlegung offenbar nicht angestellt wird, hat mit der Ursünde der Bush-Regierung zu tun: der Proklamation des "war on terrorism" vom 12. September 2001. Damit wurde die Verbrecherjagd zum Krieg, damit wurden Verbrecher zu Kriegführenden befördert. Dadurch wurde die Schwelle zum wirklichen Krieg so abgehobelt, dass viele Amerikaner sie nicht mehr sahen.

"We are already at war"

"We are already at war", hörten sie jeden Tag, als ihre Regierung den Irak-Krieg vorbereitete. Es ging ja nur um eine neue Phase in einem längst tobenden Krieg. Wer Verbrecherjagd zum Krieg erhöht, muss Krieg als Verbrecherjagd führen, mit Kopfprämie, Fahndungsliste und Galgen. Das geschah im Irak, es zerstörte diesen Staat so gründlich, dass der Wiederaufbau misslingt.

Wer gegen einen Nicht-Staat wie al-Qaida Krieg führt, missachtet den Unterschied zwischen Staat und Nicht-Staat. Böse ist böse, wo auch immer. Schurke ist Schurke, und von Schurken ist jede Bosheit, jede Verrücktheit zu gewärtigen. Wenn es islamistische Selbstmordattentäter gibt, warum sollte nicht auch ein islamistischer Staat Selbstmord begehen? Nur so ließe sich ein Schutzschild rechtfertigen, der nach den Maßstäben, die bis 1990 galten, gänzlich überflüssig ist. Immerhin kann er die Große Koalition in Berlin sowie ganz Europa entzweien, ein für die USA durchaus erträglicher Kollateralschaden.

Ja, es gibt Fanatiker, Selbstmordattentäter. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum es sie im Kalten Krieg noch nicht gab, warum sie in Palästina aufkamen und sie sich durch das Irak-Abenteuer so vermehrt haben. Kein Schirm schützt vor ihnen. Wer sterben will, lässt sich nicht abschrecken.

Aber dass ein großer, selbstbewusster Staat, der etwa so viele Einwohner hat wie Frankreich, unter ihnen viele junge, kritische, dass ein Staat, der sich auf eine 3000-jährige Geschichte beruft, Selbstmord begeht, und zwar ohne ersichtlichen Grund, einfach so, aus Bosheit, weil er zur Achse des Bösen gehört, das kann nur glauben, wer selbst ideologisch verblendet ist.

Erhard Eppler leitete fast 20 Jahre lang, von 1973 bis 1992, die Grundwertekommission der SPD. Anfang der Achtziger war er einer der führenden Gegner des Nato-Nachrüstungsbeschlusses.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: