US-Historiker Fritz Stern über Europa:Die Saat für neuen Unfrieden

Es sei "wahnwitzig", al-Qaida mit dem Islam gleichzusetzen, findet Historiker Fritz Stern. Er klagt nach dem Minarett-Verbot über "rechtsradikale Strömungen" in der Schweiz und in England.

Hans-Jürgen Jakobs

Die vergangenen Wochen waren für Fritz Stern anstrengend. Der bekannte Geschichtsprofessor aus New York reiste viel, unter anderem bekam er den Marion-Dönhoff-Preis, der nach seiner Freundin, der langjährigen Zeit-Herausgeberin, benannt ist. Und nun sitzt der Buchautor ("Fünf Deutschland und ein Leben") an diesem Montagmittag in der Katholischen Akademie in München und zeigt sich vor 200 Leuten besorgt über das, was auf jenem Kontinent passiert, den er und seine Familie 1938 verlassen mussten.

US-Historiker Fritz Stern über Europa: Der Historiker Fritz Stern bei einer Preisverleihung im November 2009.

Der Historiker Fritz Stern bei einer Preisverleihung im November 2009.

(Foto: Foto: dpa)

Der berühmte Historiker kritisiert die seiner Meinung nach "rechtsradikalen" Strömungen in England und in der Schweiz und grenzt sich deutlich vom jüngsten eidgenössischen Volksentscheid gegen Minarette ab. Es gebe den Versuch, vor Anti-Islamismus zu warnen und von ihm zu profitieren. "Al-Qaida mit dem Islam gleichzusetzen, ist ein Wahnwitz, ja ein Verbrechen", erklärt Stern. Die Verhältnisse machen ihn wütend. Immer wieder setzt er seine Brille ab.

Der Professor spürt, dass hier die Saat für neuen Unfrieden gelegt wird - und das passt nicht zu seiner Sicht der Gesellschaft, die frei ist vom clash of cultures. Der 83-Jährige habe sich wie kein anderer dafür eingesetzt, dass die Deutschen durch Aufklärung, Auseinandersetzung und Aussöhnung mit ihrer jüngsten Geschichte ins Reine kommen, begründete die Jury jüngst die Verleihung des mit 20.000 Euro dotierten Dönhoff-Preises.

In Breslau geboren, in Amerika geforscht

Der Sohn einer Ärztefamilie aus Breslau, der in der NS-Zeit mit Verfolgung persönlich konfrontiert war, glaubt an die Verbindung der Prinzipien der Freiheit mit den Ansprüchen der Sicherheit - und genau diese Aufgabe sei in den acht Regierungsjahren des George W. Bush in den USA falsch gelöst worden. Überhaupt, dieser Bush: Wissenschaftler Stern, der sich klar zur Partei der Demokraten zählt, hält den ehemaligen Präsidenten für eine Art Unglück.

Das Land sei nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seit längerer Zeit wieder wirklich einig gewesen, so wie nach der Attacke der Japaner auf Pearl Harbor im Zweiten Weltkrieg, sagt Stern, aber dass Bush ausgerechnet die Verfassung so brutal unterminieren würde, damit habe keiner rechnen können. Stern: "An dem Schaden der acht Jahre werden wir noch lange leiden."

Natürlich ist Barack Obama sein Idol. Er hat ihn im Wahlkampf unterstützt. Aber Fritz Stern stellt fest, dass es in den Vereinigten Staaten eine "ungeheure rechtsradikale Opposition" gegen ihn gebe. Das habe er selbst unterschätzt. Der Star-Historiker sieht "unterirdische Ressentiments" gegen den ersten schwarzen Präsidenten der USA und einen dumpfen Populismus.

Mancher würde fragen: "Wie kann unser Land von so einem regiert werden?" Insbesondere die Elite sei tief gespalten. Es gehe den Gegnern in Wirklichkeit darum, glaubt Stern, unliebsame Dinge wie den New Deal von Franklin D. Roosevelt abzuschaffen, also eine seit 75 Jahren erprobte systematische Wirtschaftspolitik des Staates zum Abbau von Arbeitslosigkeit und Ungerechtigkeit.

Deutsche sollen an Widerstand gegen Nazis erinnern

In Deutschland müsse man sich zwanzig Jahre nach dem Mauerfall fragen, inwieweit die Wiedervereinigung geglückt sein, fragt der Gast von der amerikanischen Ostküste: "Sollten die Unterschiede so tief sein?" Stern belehrt zur deutschen Einheit: "Von allein kommt sie nicht."

Das wirkliche Ereignis sei ja nicht der Fall der Mauer am 9. November 1989 gewesen, sondern wenige Wochen zuvor die mutige Demonstration der Bürgerrechtler vom 9. Oktober. Das müsste noch viel mehr geehrt werden, findet Stern. Auch die Leistung der Polen und des polnischen Papstes zur deutschen Einheit würden unterschätzt.

Und überhaupt: Auch in Bezug auf das "Dritte Reich" würden sich die Deutschen zu sehr an das Schreckliche erinnern, also an den Holocaust - und zu wenig an den kleinen, aber existenten Widerstand. "Kleine Heldentaten müssen gegenwärtig sein", glaubt Stern.

In Deutschland hat er als Professor an mehreren Universitäten seine Sicht dargelegt. Und in den neunziger Jahren beriet er Richard Holbrooke, den damaligen US-Botschafter in Deutschland, der heute Obamas Sondergesandter für Afghanistan und Pakistan ist.

"Freiheit ist zerbrechlich"

Eines der Lieblingsthemen von Fritz Stern ist die Freiheit, die Entfaltung des Individuums in der Gesellschaft. Der Professor weiß um die "Zerbrechlichkeit der Freiheit", wie er das nennt, schon junge Menschen müssten sich deshalb als Bürger engagieren. Seine Maxime: "Man kann sich nicht der Spaß- und Konsumgesellschaft hingeben, ohne sich Gedanken um das öffentliche Wohl zu machen." Freiheit sei gefährlich, weil man Gegenströmungen tolerieren müsse.

"Aufklärung ist Verpflichtung ohne Ende", an dieses Motto Sterns erinnerte Bundespräsident Horst Köhler vor drei Jahren, als er dem Historiker das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband verlieh. An diesem Mittag in München applaudiert der Saal dem Unbequemen. Fritz Stern wiederum bedankt sich für die Fragen - und legt dann los mit seiner Sicht der Wahrheit.

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