Urteil zu schleppenden Verfahren:Neuer Wind aus Straßburg

Deutschland hat ein "strukturelles Problem": Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mahnt die deutsche Justiz, Gerichtsverfahren nicht mehr zu verschleppen. Zu Recht, denn der Vorbild-Rechtsstaat ist träge geworden.

Wolfgang Janisch

Die Straßburger Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben sich diesmal nicht um diplomatische Floskeln bemüht. Die schleppenden Gerichtsverfahren in Deutschland, diese ständigen Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention zeugten von einem "strukturellen Problem", und statt es zu lösen, habe Deutschland einen "nahezu kompletten Unwillen" demonstriert - obwohl Straßburg schon vor vier Jahren auf Abhilfe gedrungen habe.

Selbstbewusst gegenüber dem deutschen Rechtsstaat: der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. (Foto: AP)

Eine derart deutliche Rhetorik wäre erstaunlich genug in einer Situation, in der der angemahnte Gesetzesentwurf bereits auf dem Tisch liegt; spät, aber immerhin. Doch damit nicht genug: Die Europarats-Richter setzen Deutschland erstmals mit einer Frist unter Zugzwang.

Es weht ein neuer Wind aus Straßburg, und er ist auch im fernen Berlin zu spüren. In kurzer Folge hat der Gerichtshof den deutschen Gesetzgeber bei der Sicherungsverwahrung, beim Sorgerecht lediger Väter und nun bei den überlangen Verfahren auf Trab gebracht.

Statt in der eigenen Verfahrensflut zu versinken, zeigt das Gericht auch gegenüber dem vorbildlichen Rechtsstaat Deutschland Selbstbewusstsein - ungeachtet aller Mahnungen, sich doch bitte auf notorische Menschenrechtsverletzer wie Türkei oder Ukraine zu konzentrieren.

Überzieht Straßburg? Bei der hoffnungslos verworrenen Sicherungsverwahrung hatte die Berliner Koalition bereits selbst Reformbedarf diagnostiziert, beim Sorgerecht rangierte Deutschland im europäischen Vergleich weit hinten. Und fehlender Rechtsschutz gegen Endlosprozesse schmückt den Rechtsstaat ebenfalls nicht. Der deutsche Rechtsstaat ist träge geworden - da kommt der Antrieb aus Europa gerade recht.

© SZ vom 03.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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