Urteil gegen früheren SS-Mann Oskar Gröning:Das letzte Gericht

Der Prozess gegen Oskar Gröning war auch ein Lehr- und Lernprozess. Die Beweisaufnahme gegen den Buchhalter von Auschwitz hat Unruhe erzeugt, die nicht Geschichte werden darf.

Kommentar von Heribert Prantl

Solange die NS-Täter noch leben, müssen sie vor Gericht gestellt werden. Ein solcher Strafprozess wie der gegen Oskar Gröning lehrt mehr als die sorgfältigste Ausstellung; er lehrt mehr als der beste Vortrag und mehr als der beste Unterricht; er ist eindrucksvoller als die eindrucksvollste Führung durch eine KZ-Gedenkstätte.

Der Strafprozess gegen Oskar Gröning war ein Lehr- und Lernprozess. Die Beweisaufnahme gegen den Buchhalter von Auschwitz, der ein Rädchen war im Konzentrationslager, hat die Unruhe erzeugt, die nicht Geschichte werden darf.

Dieser Prozess hat dazu beigetragen, dass die NS-Geschichte nicht einfach ins Regal gestellt werden kann. Es leben noch Täter, es leben noch Opfer - und die Erinnerung daran, wie mitten im 20. Jahrhundert, wie mitten und überall in Europa, wie in einem Land, das sich als aufgeklärt dünkte, das Verbrechen regierte, diese Erinnerung darf nicht sterben.

Der Strafprozess gegen Gröning hat die Erinnerung wach gehalten. Er hat einer jungen Generation, für die die Auschwitz-Prozesse und der Streit um die Verjährung von Nazi-Verbrechen Geschichte sind, gelehrt, dass die Verbrechen zwar lang her, aber noch nahe da sind. Der Prozess gegen Gröning hat die ungeheuerlichen Verbrechen greifbar gemacht.

Was läppisch klingen mag, ist nicht läppisch

Er hat es mit sich gebracht, dass ein NS-Angeklagter seine Schuld bekannt hat, seine moralische Schuld wenigstens; das hat es kaum je bei einem dieser Angeklagten gegeben; und dieser Prozess hat es mit sich gebracht, dass Überlebende von Auschwitz in den populären Abend-Talkshows saßen und erzählen konnten. Das mag läppisch klingen, es ist nicht läppisch.

Die Strafe, die gegen Oskar Gröning verhängt worden ist, auch sie mag vielen läppisch erscheinen. Vier Jahre Haft für die Beihilfe zu vielhunderttausendfachem Mord.

Gewiss: Der Strafrahmen, der zur Verfügung stand, hätte mehr hergegeben - bis hin zu 15 Jahren. Aber was haben vier, was haben fünfzehn Jahre für eine Bedeutung, wenn sie gegen einen Mann verhängt werden, der 94 Jahre alt ist. Es geht und ging nicht um die Höhe der Strafe, es geht und es ging um den Schuldspruch: Oskar Gröning ist schuldig der Beihilfe zum Mord an mindestens dreihunderttausend Menschen.

Gröning war ein Buchhalter in Auschwitz, er war ein Rädchen im Vernichtungsbetrieb. Er hat nicht persönlich erschossen, nicht persönlich erschlagen, nicht persönlich die Deportierten in die Gaskammern getrieben. Er war "nur" dabei, er hat auf der Rampe in Auschwitz auf das Gepäck aufgepasst, er war einer derjenigen, die sich um die "Häftlingsgeldverwertung" gekümmert haben; er hat das Geld, das den Deportierten weggenommen wurde, gezählt und weitergeleitet.

Ist das nur, wie er meinte, moralische Schuld?

Das Gericht hat diese Hilfe, richtigerweise, als strafrechtliche Schuld gewertet - als Beihilfe zum Mord, so wie das schon im Jahr 2011 das Landgericht München im Verfahren gegen John Demjanjuk getan hatte, der einst als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor gearbeitet hatte.

Auch ihm war eine aktive Mitwirkung an genau bestimmten Mordtaten nicht nachzuweisen gewesen. Das Gericht ließ es genügen, dass er dabei gewesen war, dass er dazu beigetragen hatte, die fabrikmäßige Vernichtung zu bewerkstelligen. Demjanjuk starb, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

Tätig dabei zu sein, ist Beihilfe - für diese naheliegende, für diese selbstverständliche Feststellung hat die bundesdeutsche Justiz jahrzehntelang gebraucht.

Aufbewahren für alle Zeit

Tausende von NS-Verbrechern blieben deshalb unbehelligt, weil die Justiz, wenn es um die NS-Untaten ging, auf einmal die selbstverständlichen rechtlichen Regeln vergaß. Der juristische Paradigmenwechsel in den Strafprozessen gegen Demjanjuk und Gröning kam spät, ungeheuer spät. Es wäre noch furchtbarer, wenn er gar nicht gekommen wäre.

Der Strafprozess gegen Gröning war womöglich das letzte Gericht über einen NS-Täter. Auf den Akten wird stehen: Aufbewahren für alle Zeit. Das muss auch für die Erinnerung gelten.

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