Urteil des EuGH:Merkels Kür in der Flüchtlingspolitik

Lesezeit: 2 min

Im Spätsommer 2015 kommen Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an. Sie wissen, wessen Entscheidung sie ihre Einreise zu verdanken haben. (Foto: dpa)

Als im Spätsommer 2015 Hunderttausende Menschen in Europa Schutz suchten, war Deutschland nicht verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen - durfte es aber, so der Europäische Gerichtshof.

Analyse von Heribert Prantl

Das Urteil der Europarichter zum europäischen Flüchtlingsrecht gibt der Kanzlerin nicht recht. Es setzt sie aber auch nicht ins Unrecht. Bei der Aufnahme der Flüchtlinge im Spätsommer 2015, so ergibt sich das aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg, handelte Merkel nicht nach den EU-Zuständigkeitsregeln. Merkel durfte aber so handeln, wie sie gehandelt hat, weil die Zuständigkeitsregeln auch ein "Selbsteintrittsrecht" vorsehen - um in Notfällen anderen Staaten die Last zu erleichtern.

Das Urteil erging zu Fällen, die Österreich, Slowenien und Kroatien betrafen. Es hat aber Folgen für Deutschland. Für den innenpolitischen Streit in Deutschland bedeutet es: Jeder kann behaupten, dass er recht hat. Seehofer und die AfD, die die Kanzlerin heftigst kritisiert haben, können darauf verweisen, dass Merkel die Zuständigkeitsregeln des Dublin-Abkommens nicht eingehalten hat. Merkel kann darauf verweisen, dass Deutschland zwar nicht verpflichtet, aber berechtigt war, die Flüchtlinge aufzunehmen - weil sie dabei im Geist europäischer Solidarität gehandelt habe .

Urteil zu Flüchtlingspolitik
:EuGH: Massenfluchtbewegung ändert nichts an EU-Asylzuständigkeiten

Auch in Ausnahmesituationen bleibt den Luxemburger Richtern zufolge das Ersteinreiseland für die Asylverfahren zuständig. Ein Gutachten sieht auch Ungarn und die Slowakei zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet.

Grundsätzlich hält der EuGH im Flüchtlingsrecht an den Dublin-Regeln fest - auch dann, wenn, wie im Spätsommer 2015, Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kommen. Die Europarichter folgen also nicht dem Votum der EU-Generalanwältin Eleanor Sharpston, die in einer "noch nie dagewesenen, durch die Flüchtlingskrise entstandenen Sachlage" von den Dublin-Zuständigkeitsregeln abweichen wollte.

Die Regeln der Dublin-III-Verordnung sehen vor, dass stets der Staat für die Asylverfahren und die Asylprüfung zuständig ist, in dem der Flüchtling zuerst ankommt. Das sind regelmäßig die EU-Staaten an der Außengrenze, also Staaten wie Griechenland, Bulgarien, Kroatien und Italien.

In den jetzt vom höchsten europäischen Gericht entschiedenen Fällen war das Kroatien: Österreich und Slowenien dürfen daher Flüchtlinge, die dort ihren Asylantrag gestellt haben, aber vorher in Kroatien waren, wieder dorthin zurückschicken. Das Gericht sagt aber auch: Sie müssen es nicht.

Die anderen Staaten dürfen, so die Richter, "im Geiste der Solidarität von der Eintrittsklausel Gebrauch machen". Das heißt: Sie dürfen die Asylanträge der weitergereisten Flüchtlinge prüfen und das Asylverfahren durchführen.

Merkel, die Kanzlerin des Selbsteintrittsrechts

Das ist nun ein Satz, der für die deutsche Flüchtlingsaufnahme-Politik im Spätsommer und Herbst 2015 gilt: Die Aufnahme war auf der Basis der Selbsteintrittsklausel in Ordnung. Deutschland war nach der Dublin-Verordnung nicht verpflichtet, aber berechtigt, die Flüchtlinge aufzunehmen.

Auch zu Abschiebungen nimmt das Gericht Stellung: Flüchtlinge dürfen nicht in das nach den Dublin-Regeln eigentlich zuständige EU-Land zurückgeschoben werden, wenn infolge der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl von Flüchtlingen ihre Rückschiebung sie in die Gefahr bringen könnte, "eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden".

Summa summarum: Die deutsche Kanzlerin durfte im Spätsommer 2015 so handeln, wie sie gehandelt hat; sie hätte die Flüchtinge aber auch abweisen dürfen. Sie war die Kanzlerin des Selbsteintrittsrechts. Ihr Handeln war - so lässt sich das Urteil lesen - nicht Pflicht, aber Kür.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Flüchtlinge
:Wahlkampf mit Zahlen

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warnt vor einer neuen großen Flüchtlingskrise und hält die Lage für "hochbrisant". Doch viele Fakten sind anders als vor zwei Jahren.

Von Markus C. Schulte von Drach

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: