Ureinwohner:Aus dem Schatten

Die San, ein lange unterdrücktes Volk, leben vor allem in der Provinz Westkap. Im Kulturzentrum Khwa ttu erklären sie ihre Traditionen und erkunden mit den Gästen den Busch.

Von Viola Schenz

Mit dem Rad durch den Busch? Wie soll das gehen? Wer es sich leisten kann, nimmt für große Distanzen ein Flugzeug, für kleine den Jeep, und falls es Asphalt gibt, ein Auto. Die Ärmeren und Armen sind meist zu Fuß unterwegs, für Fahrräder sind die meisten Wege zu schlecht. Hier, in Khwa ttu, schert das niemanden, Khwa ttu ist ein Ort der Gegensätze. Was woanders undenkbar bleibt, packt man hier erst recht an. Und so gibt es seit diesem Frühjahr zwei Radelstrecken im Hinterland, zehn und zwanzig Kilometer lang, durch Buschland, über Granitfelsen, über 800 Meter Steigung und durch Weinberge, auf Trampelpfaden, Jeep-Pisten oder quer durchs Grasland.

"Khwa ttu" bedeutet "Wasserstelle" in der Sprache der San. Es ist eine Art kulturelle Oase in der kargen braunen Landschaft der Provinz Westkap, eine Autostunde nördlich von Kapstadt. Auf keiner Karte ist sie verzeichnet, obwohl sie vor zehn Jahren gegründet wurde. Offiziell gibt es Khwa ttu nicht, was auch daran liegt, dass es seine Bewohner offiziell nicht gibt. Dabei ist Khwa ttu einzigartig, es ist das einzige Zentrum in Afrika, das sich der Geschichte, Kultur und Sprache der Ureinwohner widmet und das diesen mitgehört. Khwa ttu ist Schule, Werkstatt, Wohnort, Kulturzentrum, Naturreservat und Ausflugsziel in einem, knapp 60 San leben hier, sie arbeiten als Handwerker, Künstler, Historiker oder Fremdenführer. Ihre Kinder gehen in die kleine Dorfschule, und Besucher können dem Treiben beiwohnen, im Bush-Camp etwas weiter draußen übernachten, im rustikalen Bush House oder im komfortableren Guest House. Sie können sich von Susanna oder Lilly lecker bekochen lassen. Und sie können mit San die Zebras, Springböcke, Strauße oder Stachelschweine beobachten gehen, Tierspuren lesen oder eben neuerdings auch mountainbiken.

Südafrika mit seinen 54 Millionen Bewohnern ist ein Vielvölkerstaat. Hier leben mehr Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Sprache und Religion als in jedem anderen Land der Erde. Allerdings: Eine Bevölkerungsgruppe hatte man übersehen damals, 1994, als man sich nach dem Ende der Apartheid an die neue Verfassung machte: die Ureinwohner, die San mit ihrer gelblich-braunen Haut, den schmalen Augen und Nasen, der kleinen Statur, mit ihrem Talent als Spurenleser und ihren mittlerweile weltberühmten Felsmalereien. Die holländischen Pioniere, die sich Mitte des 17. Jahrhunderts in Südafrika niederließen, nannten sie abfällig "Buschjes Mannes", "Buschmänner" und verfolgten sie gnadenlos. Für die schwarzen Südafrikaner, die in den vergangenen 2000 Jahren vom Niger-Delta einwanderten, waren die kleinwüchsigen San lange Zeit "Menschen, die nichts haben" oder "Außenstehende". Weder Weiße noch Schwarze hatten etwas für sie übrig - zu fremd war ihnen ihr Aussehen, ihre Lebensweise, ihre Sprache.

Eine Rückkehr zur alten Lebensweise des Jagens und Sammelns ist unmöglich

Es gibt noch etwa 100 000 Ureinwohner, sie leben verstreut in Namibia, Angola, Botswana, Südafrika, Sambia und Simbabwe. Der Einfachheit halber nennt man sie San, obwohl der Name nur auf eines von mehreren Dutzend Völkern zurückgeht. Einen einheitlichen Namen haben sie ebenso wenig wie eine einheitliche Sprache. 80 Sprachen und Dialekte gibt es unter den San, die meisten sind verwandt und können von den anderen Gruppen einigermaßen verstanden werden. Eine San-Sprache hat es seinerzeit, 1994, nach dem Ende der Apartheid, dagegen nicht in die Liste der elf Amtssprachen Südafrikas geschafft. Es war immer die Verliererseite, die den San zugewiesen wurde, daran hat auch die politische Wende in Südafrika vor 21 Jahren nichts geändert. Erst nach und nach erwacht ein Bewusstsein dafür, dass die San eine nicht ganz unwichtige Bevölkerungsgruppe sind. Khwa ttu ist Teil ihrer komplizierten Wiedergeburt.

Information

Khwa ttu ist das einzige Zentrum in Afrika, das sich der Geschichte, Kultur und Sprache der San widmet und das diesen mitgehört. Je zur Hälfte tragen es die Stiftung Ubuntu der Schweizerin Irene Staehelin und die Working Group of Indigenous Minorities in Southern Africa, dem Verband indigener Minderheiten in Südafrika. Die Stiftung soll sich eines Tages zurückziehen und Khwa ttu sich dann selbst finanzieren. Weitere Informationen sowie Preise für Übernachtungen unter www.khwattu.org.

Schule ist aus, gleich gibt's Mittagessen, Gemüse-Eintopf mit Maisbrot. Essen und Getränke sind Spenden südafrikanischer, manchmal auch ausländischer Firmen, ebenso die bunten Plastikstühle, die Hefte, die Kugelschreiber und Wachsmalkreiden. Ohne solche Spenden könnte Khwa ttu dichtmachen. Sein finanzielles Rückgrat befindet sich weit weg, in der Schweiz. Von dort aus hat die Völkerkundlerin und Afrika-Liebhaberin Irene Staehelin vor gut zwanzig Jahren begonnen, andere für die San zu interessieren, Vorträge zu halten, Gelder zu sammeln, eine Stiftung zu gründen und sich mit Südafrikas Behörden rumzuschlagen. Nach langem Nervenkrieg konnte Staehelin schließlich Khwa ttu eröffnen - auf dem Gelände einer ehemaligen Weizenfarm, bei klarem Wetter mit Blick auf den Atlantik im Westen und auf den Tafelberg im Süden.

Michael Daiber ist einer der wenigen Weißen hier und eine Mischung aus Manager und Mädchen für alles; er erklärt, worum es eigentlich geht: "Khwa ttu ist erstens eine Möglichkeit für die San, Tourismus zu erlernen und Kontrolle über die Tourismus-Industrie zu erlangen. Zweitens soll ihr Kulturerbe wiederbelebt werden, und drittens soll hier für die San-Gemeinden des ganzen südlichen Afrika ein Einkommen erwirtschaftet werden." Tourismus hat den Vorteil, dass er viele Jobs schafft, die noch dazu keine große Qualifikation voraussetzen. Mit vier Leuten hatte Daiber angefangen, inzwischen sind es 17. Die viele Mühe, die langen Jahre haben sich gelohnt: Im April wurde das Khwa-ttu-Team mit dem African Responsible Tourism Award ausgezeichnet, der das "Engagement für Mensch und Kultur" würdigt.

Ureinwohner: SZ-Karte

SZ-Karte

Kulturerhalt indigener Völker - ein heikles Thema. Schnell schrillen die Alarmglocken, wenn sich Kulturarbeit und Tourismus vermischen. Aber ohne das Geld der Touristen hätten Einrichtungen wie Khwa ttu keine Überlebenschance. Nur mit Besuchern kommt Geld ins Restaurant und in den Souvenirshop, nur durch sie steigt die Nachfrage nach Halsketten aus Straußeneierschalen-Stücken und Straußenleder-Gürteln. Und Touristen sind Multiplikatoren: Sie erzählen daheim von den Wanderungen mit San-Spurenlesern, von den 3000 Jahre alten Felsmalereien, den Antilopen und Stachelschweinen. "Wir wollen aus der San-Kultur keine Mickey-Maus-Kultur machen", sagt Daiber. "Wir wollen hier über die Realität sprechen: Die Leute verlieren ihre Sprachen, haben kaum Zugang zu ihrem ursprünglichen Land."

Die Realität ist jedoch auch: Die San werden nicht mehr zu ihren Ursprüngen zurückfinden, die Kultur des Jagens und Sammelns ist lange vorbei, kaum ein San lebt mehr das ursprüngliche nomadische Leben. Aber ihre Traditionen und Talente haben durchaus Überlebenschancen. Immer mehr Farmen und Wildparks heuern San als Wachleute an: Sie kommen nicht nur entlaufenem Vieh schnell auf die Spur, sondern auch Viehdieben und Wilderern.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: