Unterwegs mit Franz Müntefering:Frische Kraft für den harten Knochen

Er gilt als Heilsbringer der Sozialdemokraten: "Lasst uns das, was der Franz gesagt hat, ins Land tragen!" Kompromisslos in der Sache, einfach in der Analyse: Die SPD hat ihr Schicksal und ihre Zukunft in die Hände des Fraktionsvorsitzenden gelegt.

Von Christoph Schwennicke

Koblenz, 2. Dezember 2003 - Kann sein, er holt einfach nur Luft an der Stelle. Wahrscheinlicher aber ist, dass Eberhard Schulte-Wissermann, der SPD-Oberbürgermeister von Koblenz, schon weiß, weshalb er da eine unüberhörbare Pause macht in seinem Satz, als er die Begrüßungsworte in der Rhein-Mosel-Halle von Koblenz spricht.

Unterwegs mit Franz Müntefering: Franz Müntefering

Franz Müntefering

(Foto: Foto: dpa)

Er begrüße "unseren Vorsitzenden der SPD-", sagt der Oberbürgermeister und lässt das einige Sekunden so stehen, bis er fortfährt "-Bundestagsfraktion: Franz Müntefering!" Der sitzt an einem einfachen Tisch auf dem Podium, wie immer aufrecht und mit durchgedrücktem Kreuz.

Es ist erst ein paar Minuten her, da hat er mit beschwichtigenden Handbewegungen den Jubel allmählich zur Ruhe gebracht, nachdem er die Halle betreten hatte. Lasst mal gut sein, sollten diese Handbewegungen wohl besagen, aber das Gesicht sagte etwas ganz anderes. Es tut schon gut, gemocht zu werden. Gerade jetzt, und sowas mag auch ein harter Knochen wie Franz Müntefering. Es sind Abende wie dieser, aus denen er die Kraft zieht, immer weiter zu machen.

Die Rhein-Mosel-Halle in Koblenz. Ein rundum in Eiche vertäfelter Mehrzweckraum mit schweren Kristall-Leuchtern und Neon-Quadraten an der Decke, Tennishallenatmosphäre der späten Siebzigerjahre. Sechs bis sieben lange Tischreihen, bis auf den letzen Platz gefüllt, sie müssen alsbald noch mehr gestapelte Stühle auf Sackkarren hereinrollen. Vielleicht 300 Menschen sind anwesend bei dieser "Mandats-und Funktionärsträgerkonferenz", wie OB Schulte-Wissermann eingangs so schrecklich trefflich gesagt hat.

Ohnmächtige Wut

Es ist nach dem Parteitag wieder die Zeit der Ebene, in der wieder alles erklärt wird, man wieder Senge bekommt und am Ende, wenn es gut läuft, 300 SPD-Mitglieder wieder etwas aufgerichtet nach Hause schickt. "Fraktion in der Region" nennt sich die Reihe der Veranstaltungen etwas albern, weil Fraktion immer in der Region ist, denn da haben die Bundestagsabgeordneten ja ihre Wahlkreise, aber was sollte er machen, der heimliche Generalsekretär und Parteivorsitzende in einer Person.

Die Parteigeschäfte sind nicht mehr seine Sache, das muss offiziell SPD-General Olaf Scholz machen, also muss irgendwie krampfig ein Bezug zur Bundestagsfraktion hergestellt werden. Es ist so eine Art politische Mund-zu-Mund-Beatmung, eine Aufrichtung der Agenda-Gebeugten und Niedergeschlagenen, der Verzagten und in letzter Zeit fast vom Glauben Abgefallenen.

Er sei weder Gesandter noch Geschickter, wird Müntefering später auf eine pointierte Wortmeldung hin sagen, von der noch zu reden sein wird. "Ich bin einfach nur Fraktionsvorsitzender." Das stimmt natürlich nicht.

Es ist an diesem Abend in Koblenz ein Franz Müntefering in Ausnahmeform zu erleben, im Vollbesitz seiner innerparteilichen Macht. Wenn es neben der herben Schlappe für Olaf Scholz ein Signal auf dem jüngsten SPD-Parteitag in Bochum gegeben hat, dann jenes: Die SPD hat ihr Schicksal und ihre Zukunft in die Hände dieses Sauerländers gelegt.

Ihm trauen sie das zu: das Wichtige zu tun, wie der derzeitige Werbeslogan der SPD besagt. Und das Richtige zu tun. Wenn es geht, mit Schröder, und wenn es sein muss, irgendwann auch ohne Schröder. Müntefering tut für die SPD alles. Er hat für sie auch schon einmal die Öffentlichkeit belogen und hinterher sinngemäß gesagt, dass man das darf, wenn es Schaden von der SPD abwendet.

Anekdoten von Herbert Wehner

Müntefering erzählt zur Zeit gerne Anekdoten von Herbert Wehner. Sein geflügeltes Wort vom Bochumer Parteitag "Fraktion gut, Partei auch - Glück auf" war ein variiertes Wehner-Zitat nach dessen Rückkehr damals aus Moskau. Dort hatte dieser vermerkt, der Herr bade gerne lau. Der Herr war Bundeskanzler Willy Brandt, und bald darauf nicht mehr Bundeskanzler, wie eben erst wieder in einem viel beachteten Fernsehdrama in Erinnerung gerufen wurde.

Auf diesem Bochumer Parteitag, der jetzt zwei Wochen her ist, haben alle auf die Personalien geschaut und auf den Umstand, dass Wolfgang Clement und Olaf Scholz abgestraft wurden. Dass sich unter dieser Oberfläche die SPD für eine Zeit nach Gerhard Schröder formiert hat, haben nur wenige gemerkt, der alte Löwe selbst offenbar schon. Schröders Wutausbrüche gegen Sigmar Gabriel und die Niedersachsen ("Ich mach Euch fertig!)" zeigen an, dass der Kanzler Witterung aufgenommen hat.

Der Satz kündet aber eher von ohnmächtiger Wut, denn von realer Drohung: Schröder ist, so paradox das für einen SPD-Vorsitzenden klingt, innerhalb der SPD gar nicht in der Position, jemanden fertig zu machen.

In Bochum, da waren die Helfer der Modernisierer, der Steinbrücks und Clements, unterwegs, um zu verbreiten, dass die SPD jetzt die Reformpolitik namens Agenda 2010 notariell beglaubigt habe. Und dahinter haben schon sachte strategische Sondierungen für ganz andere Eventualitäten stattgefunden, in deren Zentrum immer einer steht: Müntefering. In der Umlaufbahn: Sigmar Gabriel.

Müntefering als Organisator des Übergangs, der treuhänderische Nachlassverwalter des Kanzlers, Gabriel als neuer Mann - so könnte es gehen, wenn 2006 nichts mehr geht und die SPD sich mit ihrer verspäteten Reformpolitik in die Opposition regiert hat.

Franz Müntefering redet sehr gut über Sigmar Gabriel, obwohl ihm dessen sprunghafter und teilweise unseriös anmutender Politikstil zutiefst zuwider sein muss. Man muss mit den Ressourcen haushalten, die man hat. Und Gabriel erscheint Müntefering bei weitem als der fähigste unter den wenigen Mittvierzigern. Gabriel wiederum beschwört mit einem Mal die "alte Mitte", die man über viele Jahre vernachlässigt habe.

In der SPD hat Franz Müntefering jetzt die Macht. Er ist heimlicher Vorsitzender, faktischer Generalsekretär und Fraktionsvorsitzender in einer Person. Vor Jahren, als er Generalsekretär von SPD-Chef Schröder wurde, hat er einmal gesagt, entscheidend für die Zusammenarbeit sei, dass Schröder ihm auf Augenhöhe begegne.

Das war natürlich nicht immer der Fall. Schröder hat seinen wichtigsten Mann zwar meistens respektvoll behandelt, im Wissen darum, dass dieser und nicht er in der SPD den Knopf in der Hand hält. Vielleicht gibt es sogar eine Art Sympathie für diesen kantigen Mann aus Sundern. "Ich mag den Franz einfach gut leiden!", hatte Schröder vor Jahresfrist gesagt, als er Müntefering seinen Patzer mit dem Konsumverzicht öffentlich nachsah.

Und trotzdem hat er ihn immer wieder auch gedemütigt und geschaut, dass die Bäume des Franz Müntefering nicht in den Himmel wachsen. Haben sie aber trotzdem getan. Gerade beschnittenes Holz wird mächtig und stark. Nicht Müntefering ist in der SPD von Schröder abhängig, sondern Schröder von ihm.

Es gab beim Parteitag in Bochum eines Abends an der Hotelbar eine Begebenheit, die man wegen ihrer Zufälligkeit in ihrem Anlass nicht überbewerten sollte, aber der Umgang mit der Situation sagt schon etwas aus.

Müntefering saß schon eine ganze Weile dort in einem der schweren Clubsessel, als Schröder hereinkam in Begleitung seiner Frau, hinter den beiden dann noch Otto Schily und Olaf Scholz. Man erweiterte flugs die Runde, Tische und Clubsessel wurden verrutscht und umgestellt, Müntefering packte mit an. Weil aber alles ein bisschen eng zuging, stieß er im Rückwärtslaufen das volle Weißweinglas von Frau Schröder-Köpf um, das sich auf Schröders Hose und Jackett ergoss.

Eine Situation zum Luftanhalten, ein Malheur, das man sich nicht ausmalen mag, selbst ausgelöst zu haben: entschuldigendes Gestammel, roter Kopf, hektisches Taschentuchreichen. Allen in der Runde war irgendwie beklommen zu Mute. Müntefering aber blieb ganz ruhig, setzte sich und sah zu, wie die Kanzlergattin ihrem Mann zu Hilfe eilte. Von Beklommenheit keine Spur.

Zurück nach Koblenz. Im eichengetäfelten Mehrzwecksaal hat sich nach bald einer Stunde seiner Rede eine wundersame Atmosphäre eingestellt. In seinem unnachahmlichen Müntefering-Deutsch hat der SPD-Fraktionsvorsitzende einfache Sätze gebildet und komplexe Zusammenhänge veranschaulicht. Willy Brandts Freiheitsbegriff und Ferdinand Lassalles Idee des Arbeitervereins hat er eingewoben, ohne dass es aufgesetzt wirkte.

So wie er da vorne steht, so wie dieser hagere Mann alles erklärt - so muss das gewesen sein, als die SPD noch ein Arbeiterbildungsverein war und die Dinge denen klargemacht hat, für die die Dinge zu kompliziert geworden waren. Und alles, was Müntefering sagt, wirkt wie von tiefer Einsicht durchdrungen. Er gibt den Menschen das, wonach seine Sozialdemokraten lechzen, ohne ihnen nach dem Maul zu reden. Genau wie auf dem Parteitag in Bochum.

Hinterher stehen sie in der Rhein-Mosel-Halle und sind endlich einmal zufrieden. Der Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels aus dem Hunsrück sagt: "In dieser Klarheit bräuchten wir Flugblätter und Musterreden!", und zwar "damit unsere Leute an der Theke nicht abgemeiert werden." Hinter all dem steht die Erkenntnis: So wie du redest, Franz, sollten alle reden, das verstehen wir.

Müntefering loben heißt Berlin tadeln

Müntefering zu loben heißt aber auch, die anderen da in Berlin zu tadeln. "Was glaubst du wohl, warum die dich geschickt haben?", fragt ein Ortsvereinsvorsitzender aus Koblenz. "Weil du einer der wenigen bist, denen man vertrauen kann und denen ich vertraue."

Und dann sagt der Mann noch: "Wenn sie den jetzigen Generalsekretär geschickt hätten, hätte ich heute Abend Zweite Liga geschaut." Da sagt Müntefering dann den oben erwähnten Satz: "Ich bin weder Gesandter noch Geschickter. Ich bin einfach nur Fraktionsvorsitzender."

Klingt im ersten Augenblick sehr bescheiden, ist aber ein Macht- und Unabhängigkeitsanspruch. Und er fährt fort, alles zu erklären, jetzt noch, um zehn Uhr, denn es ist schon zweieinhalb Stunden her, dass ihn der Oberbürgermeister begrüßt hat. Und plötzlich bekommt die Veranstaltung regelrecht religiöse Züge. Eine engagierte junge Frau geht ans Mikrofon und sagt, mit Blick auf die bang erwartete Kommunalwahl in Rheinland-Pfalz am 13. Juni: "Du hast uns so viel Energie gegeben!" Und dann: "Lasst uns das, was der Franz gesagt hat, ins Land tragen!"

Er wisse genau, was die umtreibe, die ihm da zugehört haben, sagt Müntefering spät am Abend, in einem dieser Momente, wo er den letzten Rest des dünnen Zigarillo ganz vorne zwischen Zeigefinger und Mittelfinger einklemmt und sich beim Ziehen mit der Glut fast die Finger verbrennt: weil er Katholik sei. Es gebe da ganz viele Parallelen. Im Grunde sei eine Partei eine säkulare Form von Kirche. Und denen, die sie bilden, dürfe man, gerade wenn sich viel verändert und verändern muss, nicht alles wegnehmen, woran sie glauben. ´

Extrem stabil

Im Januar wird Franz Müntefering 64Jahre alt. Er redet in letzter Zeit häufiger als früher davon, wie das am besten sein soll, wenn er einmal aufhört, dass dann rechtzeitig seine Engsten zu ihm kommen und sagen: Franz, jetzt ist es gut.

Besser noch: dass er es selber merkt. Sein Plan ist auf 2006 ausgelegt, auf die Bundestagswahl. "2006 ist noch nicht entschieden!", sagt er in Koblenz, und es klingt ein bisschen trotzig und für seine Verhältnisse defensiv, denn als Warnung vor zu viel Selbstzufriedenheit ist das nicht gemeint. 2006 ist er dann 66 Jahre alt.

Es gab eine Phase zu Beginn des Jahres 2002, da war Müntefering physisch und psychisch am Rand des menschlich Machbaren. Jetzt macht er einen extrem stabilen Eindruck, sein Auftritt beim SPD-Parteitag und die Resonanz seiner Partei auf seine Person verleihen ihm frische Kraft. Im Sport würde man sagen: der Mann hat einen Lauf.

Wohin er führt, dieser Lauf? Es ist keiner in Sicht, der Franz Müntefering als Fraktionsvorsitzenden ablösen könnte. Für den Fall eines erneuten Wahlsieges 2006 wird er also weitermachen. Im anderen Fall wird Müntefering eine neue Kirche bauen müssen, auf den Trümmern der alten.

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