Unterwegs im Kaukasus:Die Zeit der Rache wird kommen

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Die russische Kaukasus-Politik hat sich in der vergangenen Zeit meist darauf beschränkt, den Völkern Zwietracht und Tod zu bringen. Das muslimische Inguschetien und das christliche Ossetien sind bis aufs Blut verfeindet. Aus altem Hass, modernem Islamismus und ewiger Armut hat sich eine explosive Mischung zusammengebraut.

Von Sonja Zekri

Die Zeit wird kommen, und dann wird er abrechnen, abrechnen für Beslan. Für den Hunger, den Durst und die Todesangst in der Turnhalle der Schule Nr1. Dafür, dass er als Neunjähriger erlebte, wie Geiselnehmer seine Mutter schlugen, seinen Vater verschwinden ließen und Menschen vor Schwäche ohnmächtig wurden. Dafür, dass der Arzt seinen Bruder nicht behandelte, als er Fieber bekam, weil ein Ossete einem Inguschen, dem "Feind", nicht hilft. Dabei war der "Feind" erst ein Jahr alt.

Im zerstörten Grosny gärt der Hass auf die Russen. Doch auch untereinander sind die Kaukasus-Völker verfeindet. (Foto: Foto: dpa)

Selimchan Amirchanow wird Rache nehmen. Seine Zeit wird kommen. Inzwischen ist aus dem Neunjährigen ein hagerer Kerl mit träumerischen Augen geworden, Wachsoldat im Innenministerium der Republik Inguschetien mit Uniform und Gewehr. Und ein Wrack. Fünf Ärzte haben versucht, ihn zu heilen. Aber bei der kleinsten Aufregung kriegt er Ausschlag. Heute zum Beispiel gleicht sein Bein einem Streuselkuchen. Seinen Vater hat Amirchanow nie wieder gesehen. "Gnade Gott dem Osseten, der mir in die Finger kommt", sagt er.

"Wer hat nach uns gefragt?"

Gnade Gott aber auch Selimchan Amirchanow, Gnade Gott Inguschetien. Denn auch Ossetien, die christliche Nachbarrepublik, hat Rache geschworen. Blutrache. Rache für Beslan, das im September zum Symbol für einen Terror geworden ist, der alle Grenzen überschritten hat. Mehr als 1100 Geiseln, Frauen und Kinder vor allem, Granaten am Basketballkorb, halbverdurstete Schüler in Unterwäsche, mehr als 300 Tote, davon die Hälfte Kinder - dieses Verbrechen, da war die Welt sich einig, setzte neue Maßstäbe.

Die Menschen in Beslan kennen weder die genaue Zahl der Geiseln, noch jene der Opfer oder auch nur die Herkunft der Täter. Tschetschenen waren darunter, vielleicht ein islamistischer Ossete, heißt es. Moskau spricht von Arabern, der Observer von zwei Briten. Aber für die Osseten zählt: Es waren auch Inguschen. Nun hasst Ossetien dem Ende der vierzigtägigen Trauerzeit entgegen. Und Inguschetien zählt die Tage. Die Terroristen, so hatte Präsident Putin erklärt, wollten den Kaukasus hochjagen. Bald wird man sehen, ob die Rechnung aufgeht.

Denn jedes neue Verbrechen schwemmt hier altes Unrecht nach oben wie ein Stein den Unrat in einem Tümpel. "Mir blieb die Luft weg, als ich die Bilder im Fernsehen gesehen habe", sagt Amirchanow: "Ich habe meine Mutter gefragt, ob es dieselbe Schule war: Sie war sicher. Es gibt nicht viele Schulen in Beslan."

Selbst wenn es eine andere Schule war: Er könnte den ossetischen Kindern von der Unruhe erzählen, vom Zittern und davon, wie wichtig es ist, nun nicht allein zu sein. Er wird es nicht tun. "Heute reden alle über Beslan", sagt er, "wer hat damals nach uns gefragt?"

Rassentrennung, überwacht von den Russen

Tatsächlich hatte im Herbst 1992 nicht einmal Russland so recht mitgekriegt, dass der Kaukasus explodierte. Sechs Tage lang kämpften Inguschen gegen Osseten. Nachbarn erschlugen Nachbarn, verschleppten die Freunde ihrer Kinder. Das Blutbad war ein Kollateralschaden vom Zerfall der Sowjetunion.

Die frisch gegründete Republik Inguschetien hatte sich Hoffnungen gemacht, einen schmalen Streifen Land wiederzubekommen, den Bezirk Prigorodnyj, historisches Inguschen-Land - und Selimchans Heimat. Jedes der Völker schwört, dass das andere anfing. Sicher ist nur: Inguschetien verlor. 60000 Inguschen wurden vertrieben. Hunderte Menschen sind verschollen. Plötzlich ist es, als sei es gestern gewesen.

Und so steht die dralle Chanifa Asamakowa vor ihrem Container im Flüchtlingslager Majskoje und schaut noch ein wenig düsterer nach Ossetien als sonst. "Da habe ich gewohnt", sagt sie und zeigt über den Posten hinweg, der die inguschetisch-ossetische Grenze seit der Geiselnahme bewacht: "Unser Haus stand in Tschermen, in Prigorodnyj. Ich sehe es jeden Tag, seit neun Jahren, und kann nicht zurück."

Denn heute wohnen Osseten in ihrer Wohnung, und Chanifa haust mit Sohn, Tochter, Mutter und Schwiegervater im Slum - wie 19000 andere inguschetische Flüchtlinge. Sie hat Plastikblumen neben das Sofa gestellt, aber ein Loch bleibt ein Loch. Tschermen ist inzwischen geteilt: In der Mitte wohnen Osseten, an den Rändern Inguschen. Und russische Truppen überwachen die Rassentrennung.

Im Lager aber wächst eine Generation ohne Heimat heran, Zielpublikum für Islamisten, die in Inguschetien längst Fuß gefasst haben. Chanifas Nachbarin Maria Alchojewa hat hier zwei ihrer sechs Kinder zur Welt gebracht, ungebrauchtes Leben: Inguschetiens Geburtenrate und seine Arbeitslosenquote sind die höchsten russlandweit.

Zehn inguschetische Kinder für jedes ossetische

Oft gehen Marias Kinder nicht zur Schule, sondern helfen auf dem Feld, um Geld zu verdienen. Und nun ist noch die Tochter krank, Tuberkulose. "Wie soll ich den Arzt bezahlen, wo ich nicht mal Kredit kriege, um Gemüse zum Einmachen für den Winter zu kaufen?", fragt sie, und dann muss sie weinen. Der Umzug nach Prigorodnyj, ein neues Haus - unbezahlbar.

Und inzwischen undenkbar. "Natürlich tun mir die Kinder von Beslan leid. Wie könnten sie einer Mutter nicht leid tun?", sagt Maria. "Aber wir haben sie nicht erschlagen." Chanifa hadert: "Die Osseten haben geschworen: Zehn inguschetische Kinder töten wir für jedes ossetische. Wenn es losgeht, sind wir hier als erste dran."

In Ossetien konnte eine aufgebrachte Menge gerade noch davon abgehalten werden, inguschetische Häuser zu stürmen. "In Tschermen wurden Busse beschossen", erzählt Chanifa. "Die Lehrerin weigert sich, inguschetische Kinder zu unterrichten", ergänzt Maria. Inguschetischen Patienten habe man nahe gelegt, ossetische Krankenhäuser zu räumen. Und in der Bank im ossetischen Wladikawkas erklärte man Chanifa, sie möge ihr Konto gefälligst drüben eröffnen. "Natürlich bewaffnen sich die Osseten", sagt Maria, "und wir bewaffnen uns auch." Die Zeit wird kommen.

Eine kaukasische Shoah

Bis vor zwei Jahren war die winzige, verschlafene Republik, in der nicht mal eine Straßenbahn fährt, eine großes Dorf: 450000 Einwohner verteilt auf der Fläche des Saarlandes. Heute gleicht Inguschetien einem Armeelager. Die Spätsommersonne lässt die Aluminiumdächer der Ziegelhäuser blitzen, Männer zuckeln auf Pferden durch die Stadt.

Aber auf der Straße von Nasran nach Magas ducken sich russische Panzer hinter Büschen, und längst halten nicht nur Kühe den Verkehr auf, sondern auch Checkpoints, wie in der Nachbarrepublik Tschetschenien. Seit Monaten braut sich eine gefährliche Mischung zusammen aus altem Hass, modernem Islamismus und ewiger Armut: eine Vorkriegssituation. So erbärmlich abhängig vom Tropf Moskaus ist dieser russische Mezzogiorno, dass selbst Präsident Putin nun erklärte, man müsse endlich etwas für den unterpriviligierten Nordkaukasus tun.

Es wäre das erste Mal. Bislang beschränkte sich die russische Politik meist darauf, den Völkern des Kaukasus Zwietracht und Tod zu bringen. Nicht nur den christlichen Osseten und den muslimischen Inguschen, aber ihnen doch so wirkungsvoll, dass man inzwischen nur schwer sagen kann, wie viel von ihrem Hass noch ethnische oder religiöse Wurzeln hat.

Einsam ragen die sieben Türme des Völkermord-Mahnmals in den Himmel von Nasran, und stoisch arbeitet Ruslan Osdojew, der stellvertretende Direktor, die Tragödien seines Volkes ab. Jahrhunderte des Widerstandes gegen die Kolonialpolitik des Zaren; der Bürgerkrieg, als die Inguschen den Weißen schwerste Niederlagen bereiteten.

Dann: 1944.

Die inguschetischen Männer kämpften noch an der Front, als Stalin Inguschen und Tschetschenen, die wajnachischen Brüdervölker, in Viehwaggons nach Kasachstan deportieren ließ. Leichen wurden auf die Gleise geworfen. "Wer den Wächtern Gold gab, durfte sie wenigstens mit Schnee bedecken", sagt Osdojew. Von 90000 Inguscheten kamen 50000 lebend an. Eine kaukasische Shoah.

Um die Türme hat Osdojew inguschetische Grabsteine aufgestellt: "Damit haben die Osseten die Bürgersteige gepflastert." Die christlichen Osseten nämlich ließ Stalin nicht deportieren, sondern in die leeren Häuser einziehen und schenkte ihrer Republik den Bezirk Prigorodnyj. Als die verbannten Völker in den fünfziger Jahren zurückkehren durften, zogen wieder Inguschen nach Prigorodnyj, aber da war es schon eine fremde Republik. Dann kam das Jahr 1992 und die zweite Vertreibung. "Sie haben schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt und Säuglinge den Schweinen zum Fraß vorgeworfen", sagt Osdojew.

Karussell der Rache

Beslan Chamchojew hat rote Augen vor Müdigkeit. Chamchojew ist der neue Innenminister Inguschetiens. Sein Vorgänger wurde ermordet, regelrecht hingerichtet. Im Juni spazierten 400 Kämpfer über die tschetschenische Grenze nach Nasran, griffen Polizeistationen an, besetzten das Innenministerium, kontrollierten Straßenkreuzungen und hinterließen 100 Tote in einer Nacht: Staatsanwälte, Polizeioffiziere, den Innenminister.

Auch auf Chamchojews Kopf, so heißt es, ist schon wieder ein Preis ausgesetzt. Was ist das für ein Gefühl, auf diesem Posten? "Um es hart auszudrücken", sagt der Minister: "Ich will Rache nehmen. Im Rahmen des Gesetzes."

Einer der abrechnen will, wieder einer. Und auch die Angehörigen wollen Vergeltung. 30 Verdächtige hat Chamchojew festgenommen, 18 werden angeklagt: "Sie bitten darum, dass ihr Prozess verlegt wird. Sie haben Angst."

So dreht sich das Karussell der Rache, und mit Beslan hat die nächste, schrecklichere Runde begonnen. Dennoch gibt sich der Minister hoffnungsvoll: "Die Osseten wissen: Terroristen sind Zombies. Sie haben keine Nationalität." Aber sie haben das, was Wissenschaftler einen "Referenzkonflikt" nennen, und der liegt nebenan, in Tschetschenien, und zieht Inguschetien in seinen Sog.

Der Tod gehört zum Alltag

Hunderttausende Flüchtlinge aus der umkämpften Republik fanden Zuflucht in Inguschetien. Im Juni hat Russland die letzten Lager geschlossen, aber viele Tschetschenen sind nie fortgezogen, und auch unter ihnen sinnen viele auf Rache für das, was ihren Angehörigen angetan wurde.

Dass aber die kleine Republik selbst zur Kampfzone wurde, dass zu den Angreifern im Juni nicht nur tschetschenische Rebellen, sondern auch Inguschen gehörten, hat noch andere Gründe.

Längst gehört auch in Inguschetien der Tod zum Alltag, werden Menschen entführt, gefoltert, ermordet. Inguschetien, so der Guardian, sei inzwischen ein "gefährlicherer Ort als Tschetschenien". Der Angriff im Juni, das weiß Chamchojew, war ein Racheakt für solche Übergriffe. "Mit Menschenrechtsverletzungen habe ich nichts zu tun", sagt er: "Das ist eine andere Abteilung." Eine andere Abteilung: der Geheimdienst FSB, Wiege Wladimir Putins.

Murat Sjasikow, seit zwei Jahren Präsident Inguschetiens, gehört zu dieser anderen Abteilung, und wohl auch deshalb hat sein Ministerpräsident Achmed Malsagow nach zwei Monaten die Sachen hingeworfen: "Sjasikow ist Moskau hörig", sagt Malsagow: "Er ist eine Schande für unser Land." Heute mehrt der Ex-Politiker Malsagow sein Vermögen unter anderem durch die Produktion von Fertiggerichten. Hohe Mauern umgeben sein Anwesen, er liebt Pferde und leistet sich ein privates Museum. Sjasikow, sagt er, ist gefährlich: "Mit solchen Freunden braucht Moskau keine Feinde mehr."

"Ich fürchte, Beslan ist nicht das Ende."

Dabei ist Installierung von Putins Ex-Kollegen gerade ein neuer Versuch des Kreml, den Kaukasus zu domestizieren. Sjasikows populärer Vorgänger Ruslan Auschew, dem Malsagow jahrelang als Regierungschef diente, war Moskau in der Tschetschenien-Frage zu selbstbewusst. Auschew hatte sogar mit Rebellen verhandelt.

Doch dass es deshalb in Beslan ausgerechnet ihm, dem Inguschen, gelang, die Geiselnehmer zu überreden, 26 Frauen und Kinder freizulassen, versöhnte weder Moskau noch die Osseten. "Auschew konnte nicht gewinnen", sagt Malsagow: "Hätte er mehr Kinder gerettet, hätten alle gesagt: Seht ihr, so gut versteht er sich mit den Verbrechern."

Wird die Rechnung der Terroristen aufgehen, der Kaukasus in die Luft fliegen? "Alles hängt von den Russen ab: Ohne ihren Schutz wagen sich die Osseten nicht aus der Deckung", sagt Malsagow. "Ossetien ist Russlands Vorposten im Kaukasus. Die Flugzeuge, die Grosny bombardieren, starteten im ossetischen Mosdok." Inguschetien aber misstraue Moskau: "Das ist nicht gut für die Einheit des Landes. Ich fürchte, Beslan ist nicht das Ende."

Und so zählen sie die Tage, die verwaisten Eltern von Beslan, die Flüchtlinge, der Minister. Nur einer zählt nicht. Hoch oben in den Bergen lebt Muchtar Zurow, Vize-Direktor des Kinderlagers "Adler". Tausende Kinder aus Inguschetien und Tschetschenien hat er hier den Krieg vergessen lassen bei Schönheitswettbewerben und selbst geschriebenen Gedichten. Aber seit September ist es still im Speisesaal, und über den leeren Pool streicht der Wind.

"Die Regierung hat Angst, dass Terroristen die Kinder als lebende Schutzschilde missbrauchen könnten", sagt Zurow: "Dabei ist dies der friedlichste Platz der Welt." Dann lässt er den Blick schweifen über die schneebedeckten Gipfel, dorthin, wo Georgien beginnt und der nächste Konflikt heraufzieht. Russische Armeelaster rollen die Serpentinen hinab. Aber Zurow tut, als würde er sie gar nicht sehen.

© SZ vom 11.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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