Unser Osten: Leben:Luxus und Last der Leere

Günstige Mieten ziehen Kreative in Städte wie Leipzig und Berlin, wo sie Arbeiterviertel zu lebendigen Szenetreffs machen. In kleineren Städten wird die Leere zum Problem. Eine Serie zu 20 Jahre deutsche Einheit.

Wolfgang Jaschensky

Mathias Tretter kennt Deutschland. Er reist mehr durchs Land als jeder Versicherungsvertreter. Tretter macht politisches Kabarett. Seit sieben Jahren. 200 Auftritte pro Jahr. Das macht eine Menge Deutschland. Vor drei Jahren ist er nach Leipzig gezogen. Tretter sagt: "In Deutschland gibt es keinen besseren Ort zum Leben."

Unser Osten

Die Brache nach dem Abriss. Der "Rückbau" verschlingt Millionen Euro, die an anderen Stellen fehlen. Das Bild zeigt einen der wenigen verbliebenen Plattenbauten vom Wohnkomplex 10 in Hoyerswerda.

(Foto: Wolfgang Jaschensky)

Tretter steht auf einer Baustelle. An einem Ende des Raums ein Podest aus Holz mit einem großen Loch in der Mitte, am anderen Ende einige Stühle, auf einem sitzt eine Schaufensterpuppe. Ab Oktober soll Publikum anstelle der Puppe sitzen und in dem Loch eine Drehbühne Schauspieler in Szene setzen. Zusammen mit seiner Frau und zwei Freunden will der Kabarettist hier in wenigen Wochen ein Theater eröffnen, das Neues Theater Leipzig heißen wird.

Künstler und andere Pioniere

"Dass das Ganze sich trägt, ist natürlich visionär bis utopisch", sagt Tretter. Doch wo, wenn nicht hier in Leipzig, soll so ein Projekt möglich sein? Die Bedingungen in Leipzig sind ideal: Das Publikum ist offen und kunstinteressiert, hier gibt es genügend Leerstand und günstige Mieten. "Hier kann man das riskieren, ohne fürchten zu müssen, dass man sich für 20 Jahre ruiniert", sagt Tretter. "In einer größeren Stadt in Westdeutschland wäre so ein Projekt niemals möglich gewesen."

Mit dieser Einschätzung ist Tretter nicht allein. Brache Industrieflächen, die als Ateliers, Veranstaltungsflächen oder als Lofts genutzt werden, und günstige Mieten ziehen Künstler und Studenten in Städte wie Leipzig, Dresden und natürlich Berlin. Dort versammelt sich die Szene in Vierteln wie Connewitz, der Neustadt oder Friedrichshain. Für Stadtgeographen ist das der erste Schritt eines Prozesses, den sie Gentrifizierung nennen.

Die Pioniere - also Künstler, Studenten, Kreative - werten den Stadtteil durch kulturelle Aktivitäten auf, Bars und Restaurants entstehen und locken wohlhabendere Bewohner an. Am Ende der Entwicklung steht oft das Problem, dass die alteingesessenen Bewohner sich das Leben im Viertel nicht mehr leisten können.

Diese Yuppisierung gab es in London und New York, in Oslo und Zürich und auch in Prenzlauer Berg in Berlin. In Leipzig-Lindenau, dort wo das Theater entstehen soll, sind solche Verdrängungsprozesse noch nicht zu beobachten. Zwar steigen auch hier langsam die Mieten, aber eine 150-Quadratmeterloft mit Dachterrasse ist hier noch für unter 500 Euro zu haben. Und eine ordentliche 100-Quadratmeterwohnung findet sich für 200 Euro.

Und daneben gibt es ein Überangebot an nicht oder selten genutzten Industriebrachen. "Hier versuchen ständig irgendwelche Leute ganz verrückte Sachen, aber keiner macht eine große Sache daraus. Man versucht einfach mal", sagt Kabarettist Tretter.

Ein Luxus, der in den teuren und ökonomisch erfolgreicheren Westmetropolen kaum denkbar ist. Wenn in München ein Kaufhaus schließt und darin für ein halbes Jahr eine Zwischennutzung zu kulturellen Zwecken möglich ist, gerät die gesamte Münchner Szene in Ekstase. In Leipzig oder Berlin wäre solch ein Hype kaum vorstellbar.

Sebastian Lenz, Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig, nennt das "Luxus der Leere". Lentz sieht darin die positive Wendung von Schrumpfung, begreift diese als Qualitätssteigerung. In Leipzig ist es ganz normal, dass der Unternehmensberater in seiner luxussanierten Gründerzeitwohnung eine Vierer-Studenten-WG als Nachbar hat", sagt Lentz.

"The hottest place on earth"

Was aus diesem Luxus entstehen kann, lässt sich zwei Kilometer entfernt von Tretters Theaterprojekt in der Alten Baumwollspinnerei besichtigen. Ende des 19. Jahrhunderts entstand hier im Stadtteil Lindenau die größte Spinnerei des Kontinents, Ende des 20. Jahrhunderts wurde daraus der "hottest place on earth", wie die britische Zeitung Guardian urteilt.

Die Neue Leipziger Schule um Künstler wie Neo Rauch, Tilo Baumgärtel, Matthias Weischer oder Tim Eitel hat nach der Wende von ihren Ateliers in der Spinnerei aus die Kunstwelt erobert. Hunderte Gemälde, die hier entstanden sind, schmücken heute Wände in Museen, Kunstsammlungen und Privathäusern rund um den Globus.

Die Leere in Hoyerswerda ist eine andere, sie beflügelt keine Subkultur und schafft keine Meistermaler. Die Leere in Hoyerswerda ist überall greifbar. Auf grünen Wiesen, oft mehrere Hektar groß, mitten in der Stadt. Auf Bolzplätzen, auf denen keine Kinder spielen. In Schaufenstern, die seit Jahren nicht mehr dekoriert werden. In Hoyerswerda ist die Leere längst zur Last geworden.

Zwar ist der Wohnraum in der schrumpfenden Stadt noch günstiger als in Leipzig, doch die Stadt kann zu wenig bieten, um neue Bewohner anzulocken. Es fehlen Arbeitsplätze und Perspektive. Und der Abriss leerstehender Plattenbauten und Häuser am Stadtrand verschlingt Millionen Euro.

Neue Freiräume

"Ich würde die alten Platten lieber stehen lassen und das Geld in die Entwicklung der Stadt stecken", sagt Dorit Baumeister. Die Architektin engagiert sich seit Jahren in verschiedenen Projekten, die alle das Ziel haben, dieser Stadt eine Zukunft aufzuzeigen, die versuchen, kreativ mit der Krise umzugehen und in dem Niedergang Chancen für einen Neuanfang zu suchen.

Dafür steht auch ihre Orange Box. Baumeister hat den Kubus an der Grenze zwischen Alt- und Neustadt als Dokumentations- und Diskussionsforum entworfen. Wenn die Architektin vor der Box über ihre Heimat spricht, dann sprudelt sie vor Ideen und Enthusiasmus fast über. Baumeister erzählt von der ungeheuren Lebensqualität in sanierten Plattenbauten, von ungewöhnlichen Wohnkonzepten und von den Möglichkeiten, die neue Freiräume einer Stadt bieten.

Die Macher der Kulturfabrik in Hoyerswerda versuchen diese Freiräume kreativ zu gestalten. Immer wieder thematisieren sie den dramatischen Einwohnerrückgang der Stadt und versuchen, einen Weg in die Zukunft zu weisen.

Zum Beispiel mit der Malplatte. 300 Künstler machten in zwei Wochen aus einem leerstehenden Plattenbau ein einzigartiges Kunstobjekt. Oder die Picknickwiese, die die Brachen in der Stadt für das öffentliche Leben zurückerobert hat.

Aufstocker und andere Überlebende

Dorit Baumeister weiß, dass Kunstprojekte und günstige Plattenbauwohnungen nicht ausreichen. "Ich könnte mir vorstellen, dass Hoyerswerda sich frech aufstellt und sagt: Wir werden eine spannende Stadt zum Leben. Wir müssen weit mehr bieten als das, was der Staat vorgibt."

Andreas Willisch glaubt nicht, dass das genügt. "Menschen bleiben da, wo es Arbeitsplätze, Sicherheit und eine Perspektive für sie gibt", sagt Willisch, Chef des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung. Und genau davon gibt es in den kleinen Städten in Ostdeutschland zu wenig. "Viele Studien belegen, dass sich die sozialen Probleme in Städten zwischen 5000 und 40.000 Einwohnern bündeln."

Eine solche Stadt ist Wittenberge im Nordwesten Brandenburgs. 28 Soziologen und Ethnologen haben drei Jahre lange das Leben der Menschen in Wittenberge untersucht. Der Name dieses einzigartigen Forschungsprojekts: "Über Leben im Umbruch". Der Titel ist mit Bedacht gewählt. Wittenberge wurde von der Deindustrialisierung nach der Wende so hart getroffen wie kaum eine andere Stadt in Ostdeutschland. "Unter dieser Implosion leidet die Stadt noch heute", sagt Willisch, einer der Projektleiter der Studie.

"Sekundär integriert"

Die Wissenschaftler haben unzählige Interviews für ihre qualitative Studie geführt. Viele sind nach Wittenberge gezogen, um Teil des Forschungsobjektes zu werden. Sie sind auf Menschen getroffen, deren zentraler Lebensinhalt die Pflege des Kleingartens ist und auf Menschen, die sich auf die Organisation ihrer Untätigkeit spezialisiert haben.

Diese Menschen würden die Forscher auch in vielen kleinen Städten in Westdeutschland finden. In Wittenberge aber sind es viele. Ein Drittel der Bevölkerung ist nur "sekundär in die Gesellschaft integriert", wie es Soziologe Willisch formuliert. Menschen, die am Arbeitsmarkt und öffentlichen Leben nur über staatliche Maßnahmen teilhaben. Menschen, die mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Ausweg aus ihrer Situation finden.

Dass es davon auch in Leipzig zu viele gibt, davon können die Mitarbeiter der Leipziger Erwerbsloseninitiative berichten. Seit der Einführung von Hartz IV haben die Mitarbeiter hier noch mehr zu tun - und neue Problemfälle: die "Aufstocker". Das sind Menschen, die arbeiten und trotzdem auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. "Allein in Leipzig haben wir 7000 Menschen, die Vollzeit arbeiten und trotzdem mit ALG II aufstocken müssen", sagt Dorothea Klein.

Die meisten von ihnen werden vom Luxus der Leere nicht profitieren.

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