Unschuldig im US-Gefangenenlager:Der verstoßene Murat Kurnaz

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Mit deutscher Gründlichkeit: Wie die alte Bundesregierung versucht hat, die Rückkehr des Bremer Guantanamo-Häftlings zu verhindern.

Hans Leyendecker, John Goetz und Nicolas Richter

In der Regierungszeit von Rot-Grün haben das Kanzleramt, Sicherheitsbehörden und das Bundesinnenministerium über Jahre hinweg versucht, die Rückkehr des von den USA Ende 2001 nach Guantanamo verschleppten gebürtigen Bremers Murat Kurnaz zu verhindern.

Murat Kurnaz (Foto: Foto: AP)

In einer Aktion sollte auch erreicht werden, von amerikanischen Diensten den türkischen Pass des in Lagerhaft lebenden Bremers zu erhalten, um dessen deutsche Aufenthaltsgenehmigung zu vernichten. Hier eine Chronologie, die sich aus den internen Unterlagen der Regierung ergibt, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen.

8. Oktober 2002: Deutsche Sicherheitsexperten berichten über ihren Besuch bei Kurnaz in Guantanamo. Ihr Fazit: Kurnaz sei wegen seiner Naivität in diese Lage geraten, es gebe bei ihm keine Hinweise auf eine verinnerlichte islamistische Ideologie.

29. Oktober 2002: Im Kanzleramt diskutieren die Chefs der Sicherheitsbehörden über ein Angebot der Amerikaner, Kurnaz freizulassen. Der von August Hanning geführte Bundesnachrichtendienst plädiert dafür, Kurnaz in die Türkei abzuschieben und eine Einreisesperre für Deutschland zu verhängen. Das entspricht der Meinung des Kanzleramtes und des Innenministeriums.

30. Oktober 2002: Das Innenministerium erarbeitet einen Fünf-Punkte-Plan, um Kurnaz auf Distanz zu halten. Das Ministerium befindet, die Aufenthaltserlaubnis des Bremers sei kraft Gesetzes erloschen, weil Kurnaz sich länger als sechs Monate im Ausland aufgehalten habe und nicht zurückgekehrt sei. Weil die zuständige Ausländerbehörde der Stadt Bremen dies förmlich feststellen soll, beschließt das Ministerium eine "Kontaktaufnahme mit der Stadt Bremen".

Notfalls plant das Ministerium, eine "Einzelweisung" an die Stadt zu erteilen. Die politische Verantwortung gehe damit allerdings auf das Ministerium über, stellen die Beamten fest - dies wäre ein "bisher einmaliger Vorgang". Ein Verantwortlicher, der das Papier später liest, schreibt daneben: "Na und!".

Der Kurnaz-Plan wird minutiös ausgearbeitet. Das Aufenthaltsrecht des Türken zwangsweise zu beenden, könne eine "erhebliche" Reaktion der Medien auslösen, vermutet man im Innenministerium. Für diesen Fall wird deswegen eine "Immunisierungsstrategie" skizziert, die den politischen Druck auf das Ministerium mildern würde:

Die Schuld für das Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis soll dem Rechtsanwalt von Kurnaz zugewiesen werden. Der habe eben "übersehen", hieße es dann, sich um die Verlängerung des Bleiberechts zu kümmern.

Die Beamten orten ein weiteres Problem. Der türkische Pass von Kurnaz mit dem deutschen Aufenthaltstitel liege noch bei den Amerikanern. Sollten sie Kurnaz freilassen, könnte der mit dem Dokument wieder in die Bundesrepublik einreisen.

Das Innenministerium schlägt vor, das Bundesamt für Verfassungsschutz solle die Amerikaner darum bitten, den Pass von Kurnaz einer deutschen Botschaft zur Verfügung zu stellen, um die Aufenthaltsgenehmigung auch "physikalisch ungültig" zu machen, das heißt: Die Seite mit dem Aufenthaltstitel zu vernichten.

Das Kanzleramt billigt den Plan. Geheimdienst-Koordinator Ernst Uhrlau gibt handschriftlich die Anweisung, "die amerikanische Seite zu unterrichten".

9. November 2002: In einem internen BND-Bericht an Behördenchef Hanning heißt es, die Amerikaner wollten Kurnaz wegen seiner "nicht feststellbaren Schuld sowie als Zeichen der guten Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden" freilassen. Die Amerikaner vermuten, dass die Bundesregierung mit ihrer ablehnenden Haltung Härte im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zeigen wolle. Im Fall Kurnaz aber wäre eine andere Entscheidung im Interesse der USA gewesen.

Die Deutschen bleiben hart. Sie bleiben es auch in den folgenden Jahren bis 2005, obwohl die Kritik an Guantanamo weltweit zunimmt und mittlerweile selbst die US-Justiz festgestellt hat, dass Kurnaz unschuldig ist und die Vorwürfe gegen ihn überhaupt nicht belegt sind.

14. Oktober 2005: Wochen nach der Bundestagswahl kämpft das Kanzleramt immer noch gegen die Rückkehr des Bremer Türken. Ein hoher Mitarbeiter des Kanzleramts ist verärgert über neue Bemühungen der Botschaft in Washington. "Wenn die Botschaft Interesse an Kurnaz bekundet, muss doch auf der US-Seite der Eindruck entstehen, wir wollten ihn zurückhaben. Scheint mir etwas unkoordiniert zu verlaufen".

26. Oktober 2005: In einem Vermerk des Auswärtigen Amtes heißt es: "Die Frage der Zulassung der Wiedereinreise von Kurnaz war laut Bundesinnenministerium und dem Chef des Bundeskanzleramtes (damit ist der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier gemeint, d. Red.) bereits mehrfach Gegenstand der nachrichtendienstlichen Lage. Dort sei auch mit dem Auswärtigen Amt Übereinstimmung erzielt worden, eine Wiedereinreise des K. nicht zuzulassen"

30. November 2005: Das Bremer Verwaltungsgericht urteilt, dass Kurnaz seine Aufenthaltserlaubnis nicht verloren hat.

In einer E-Mail des Auswärtigen Amtes an die deutsche Botschaft in Washington heißt es daraufhin: "Das Bundesinnenministerium legte intern und vertraulich Wert auf die Feststellung, dass dies nicht bedeute, dass man Kurnaz hier deshalb nun unbedingt gerne haben würde."

22. Dezember 2005: Das Kanzleramt schreibt an den Anwalt von Kurnaz. In dem Brief heißt es: "Die Bundesregierung hat sich aus humanitären Gründen mehrfach gegenüber den US-Behörden für Herrn Kurnaz eingesetzt." Tatsächlich kam die Wende erst mit der Kanzlerschaft Merkels.

13. Juli 2006: Bei ihrem Treffen in Stralsund sprechen Kanzlerin Merkel und US-Präsident Bush über Kurnaz. Die Bundesregierung erklärt, die Verhandlungen seien weit fortschgeschritten.

24. August 2006: Murat Kurnaz kehrt nach fast fünfjähriger Gefangenschaft nach Deutschland zurück.

© SZ vom 19.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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