Unruhen in Paris:"Sarkozy trifft die Hauptschuld an den Ausschreitungen"

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In den Vororten der französischen Hauptstadt brennen Autos, Jugendliche plündern und zerstören, was ihnen in den Weg kommt. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, über den Hintergrund der Krawalle und die Frage, ob es auch in Deutschland soweit kommen könnte.

Thorsten Denkler

Christian Pfeiffer, Jahrgang 1944, ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Er setzt sich vor allem mit Jugendgewalt auseinander. Von 2000 bis 2003 war er Justizminister des Landes Niedersachsen.

Christian Pfeiffer (Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de:In den Vororten von Paris sind seit Tagen marodierende Jugend-Banden unterwegs. Sie stecken Autos in Brand, plündern und zertrümmern, was ihnen in den Weg kommt. Was ist da los?

Christian Pfeiffer: Das sind die Folgen des unglaublichen Verhaltens eines Innenministers.

sueddeutsche.de: Wie meinen Sie das?

Pfeiffer: Diese gewalttätigen Gruppen von Nordafrikanern agieren aus einer tief verwurzelten Kultur der Ehre heraus. Wenn man die beleidigt, wie es der Innenminister Sarkozy mit dem Wort ,Gesindel´ getan hat, provoziert man sie geradezu, sich gegen den Staat aufzulehnen. Dümmer kann man sich nicht verhalten. Sarkozy trifft die Hauptschuld an diesen Ausschreitungen.

sueddeutsche.de:Wie ist die einmal entfesselte Gewalt jetzt noch eindämmbar?

Pfeiffer:Es bleibt jetzt gar kein anderer Weg, als mit massivem Einsatz von Polizeikräften und notfalls mit Hilfe des Militärs wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ein Rücktritt von Sarkozys könnte helfen.

Ist die Ordnung wieder hergestellt, muss den Jugendlichen eine Perspektive gegeben werden. Das ist nicht so einfach, wenn man sich allein die katastrophalen Wohnlagen anschaut, in der diese Menschen leben müssen.

sueddeutsche.de:Sie sind auch Sozialpsychologe. Was treibt Sarkozy?

Pfeiffer:Sarkozy hat eine Situation geschaffen, in der er die Muskeln spielen lassen kann, um sich später als starker Mann feiern zu lassen. Sein Verhalten entspringt einer Profilneurose. Er will sich als Law and Order Man für das Amt des Präsidenten empfehlen. Dabei war er es, der den Flächenbrand entzündet hat.

sueddeutsche.de:Kein Feuer brennt ohne Nahrung. Wie entflammbar war die Situation bereits?

Pfeiffer:Vorher hatten wir es mit einer schwelenden Krise zu tun, die seit vielen Jahren besteht.

Meine Kollegen, die französischen Kriminologen Francois Dubet und Didier Lapeyronnie haben bereits in ihrem 1994 erschienenen Buch "Im Aus der Vorstädte" darauf hingewiesen, dass sich in den Vorstädten von Paris und andren französischen Großstädten eine gefährliche Mischung zusammenballt aus Machokultur, sozialer Randlage und einer feindlichen Grundstimmung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft der Franzosen.

Bedingt natürlich auch durch die Fremdheit, die es bedeutet, als Angehöriger des Islam dieser Gesellschaft anzugehören.

Ich selber habe 1998 in einem Gutachten für die Europäische Union über Jugendgewalt in Europa genau diesen Umstand zu einer zentralen Aussage gemacht. Der französische Staat hat außer ein paar Pflästerchen das Grundproblem nie in Angriff genommen. Deshalb kommt es in Frankreich immer wieder zu solchen Ausschreitungen.

sueddeutsche.de:Ist das ein rein französisches Problem?

Pfeiffer:Es gibt für solchen Erscheinungen auch ein Potential in Deutschland. Aber ich ergänze: Wir können aus guten Gründen hoffen, dass es in Berlin, Hamburg oder Dortmund so weit nicht kommt.

sueddeutsche.de:Warum nicht? Die Probleme französischer Migranten scheinen sich von denen in Deutschland nicht sonderlich zu unterscheiden.

Feuer in Paris (Foto: Foto: Reuters)

Pfeiffer:Wir haben gerade eine Repräsentativbefragung von 17.000 Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 15 Jahren abgeschlossen. Es gibt gerade unter türkischstämmigen Jugendlichen tatsächlich eine ausgeprägte Kultur, in der sie Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen verinnerlicht haben. Nennen Sie es Machokultur oder Kultur der Ehre.

Aber: Es ist selbst unter diesen Jugendlichen mehr Vernunft zu spüren, der Staat versucht stärker als in Frankreich Wege der sozialen Integration aufzuzeigen, die Innenminister verhalten sich klüger und die Polizei tritt längst nicht so provokativ auf. Wir sind insgesamt maßvoller im Umgang miteinander.

sueddeutsche.de:Und das schützt vor Gewaltexzessen?

Pfeiffer:Bis jetzt hat uns das davor geschützt. Aber das Potential ist vorhanden. Zum Glück hat sich bisher niemand so ungeschickt verhalten wie Herr Sarkozy. Auch das Zuwanderungsgesetz hat leichte Verbesserungen gebracht.

Der Anteil derer, die aus sozialen Randgruppen heraus den Sprung aufs Gymnasium schaffen, hat sich erhöht. Und was nicht unterschätzt werden darf: Die innerfamiliäre Gewalt hat in diesem Milieu etwas abgenommen. Das sind leichte Anzeichen der Verbesserung.

Aber es gibt nach wie vor einen harten Kern von gewaltbereiten Jugendlichen, der sich nicht verringert hat über die vergangenen zehn Jahre.

sueddeutsche.de:Was ist mit diesem harten Kern?

Pfeiffer:Noch ist die Gewalt nicht politisiert. Sie bleibt im Milieu, spielt sich unter den Jugendlichen ab, die sich gegenseitig zeigen, wer der Stärkere ist im Stadtteil, im Freizeitheim, in der Disko.

sueddeutsche.de:Ist das ein Pulverfass, auf dem wir leben, und es muss nur der falsche Politiker kommen, der es entzündet?

Pfeiffer:Ich würde es so nicht formulieren. Abgesehen davon kann ich mir keinen deutschen Innenminister vorstellen, der sich derart ungeschickt äußern würde, wie Sarkozy es getan hat. Es muss aber mehr zusammenkommen, damit es zu solchen Ausbrüchen kommt.

sueddeutsche.de:Was also muss getan werden?

Pfeiffer:Mit dem Kurs der Integration stehen wir erst am Anfang. Den müssen wir konsequent stärken. Aber eine ganz besondere Rolle kommt der Bildung zu.

Die gerade veröffentlichte zweite Pisa-Studie hat klar gezeigt, dass Migranten und sozial benachteiligte Deutsche erhebliche Benachteiligungen im Bildungssystem haben. Das ist ein Alarmsignal erster Güte.

Der Satz ,Jeder ist seines Glückes Schmied´ muss wieder Gültigkeit bekommen. Das fängt bereits im Kindergarten an, wo Migrantenkinder zu häufig unter sich bleiben. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn diese Kinder in der Schule später scheitern und nur weniger als zehn Prozent Zugang zum Gymnasium finden.

sueddeutsche.de:Was ist mit denen, die gar nicht mehr integrationswillig sind?

Pfeiffer:Die erreichen wir wenn überhaupt nur noch über die Schule. Dafür aber haben wir zu wenig Ganztagsschulen.

Vor allem Schüler aus sozialen benachteiligten Familien kommen nach Hause und durchleben in Computerspielen erstmal stundenlange Gewaltexzesse.

Die Nachmittagskultur der Unterschicht ist geprägt von einem vor sich hin gammeln. Dort gibt es kaum noch Eltern, die dafür sorgen, dass ihre Kinder lesen, einen Sport betreiben, ein Instrument erlernen oder Nachhilfe bekommen. Diese Nachmittagskultur muss durchbrochen werden.

In guten Ganztagsschulen steckt eine große Chance, vielen Jugendlichen Nachmittags wieder Lust am Leben zu vermitteln.

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