Tote bei Unruhen in Tripolis:Libysches Parlament in Flammen

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Die Zahl der Opfer steigt, Regierungsgebäude in der Hauptstadt Tripolis brennen, Fotos von Gräueltaten der Armee kursieren im Netz: Das Regime in Libyen geht mit brutaler Härte gegen Demonstranten vor. Ein Minister soll aus Protest zurückgetreten sein. Der Sohn Gaddafis droht mit einem "Blutbad".

Michael König

Auch Diktatorensöhne wählen ihre Profilbilder mit Bedacht. Saif al-Islam al-Gaddafi blickt bei Twitter nachdenklich zu Boden, bei Facebook steht er vor einem goldenen Falken, die Hand lässig in der Tasche eines edlen Anzugs. Der zweitälteste Sohn des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi gilt als überzeugter Internetnutzer. Sein Vater verkündete 2001, jeder Libyer müsse "ein Handy und einen PC" besitzen. Er selbst sei ein "begeisterter Surfer" geworden.

Angesichts der Szenen, die sich derzeit in den Straßen von Bengasi und Tripolis ereignen, scheint die Interneteuphorie von Vater und Sohn allerdings nachgelassen zu haben. Ihre Gegner dokumentieren im Netz, was das Regime vertuschen will: Libyen erlebt die schwersten Unruhen seit dem Amtsantritt von Muammar al-Gaddafi vor 41 Jahren. Die Armee geht mit brutaler Härte gegen Demonstranten vor. Menschenrechtsorganisationen sprachen am Sonntag von mehr als 230 Toten. Seit Beginn der Proteste vor fünf Tagen sollen 400 Menschen ums Leben gekommen sein.

Am Montag meldete der arabische TV-Sender al-Dschasira unter Berufung auf Krankenhäuser, in der Hauptstadt Tripolis seien alleine in der Nacht und am Morgen 60 Menschen getötet worden. Auf dem Grünen Platz im Zentrum hätten sich wieder Tausende Demonstranten versammelt. Berichten zufolge steht das Parlament in Flammen. Auch in der Zentrale des Olympischen Komitees sei Feuer ausgebrochen, hieß es.

Bei Twitter kursieren Fotos von exekutierten Demonstranten, denen Scharfschützen in den Kopf geschossen haben sollen. In Youtube-Videos sind panische Menschenmengen zu sehen und Schüsse zu hören. Dem Bericht einer libyschen Zeitung zufolge ist der Justizminister des Landes, Mustafa Abdel-Jalil, aus Protest gegen den "exzessiven Einsatz von Gewalt gegen unbewaffnete Demonstranten" von seinem Amt zurückgetreten. Auch sollen Teile der Armee sowie Funktionäre und Diplomaten zur Opposition übergelaufen sein.

Weil es in Libyen kaum ausländische Journalisten gibt, lassen sich diese Informationen oft nicht verifizieren. Auch arabische Medien wie der in Katar ansässige TV-Sender al-Dschasira berufen sich deshalb auf Twitter- und Facebooknachrichten, Flickr-Bilder und Youtube-Videos. Anders als in Ägypten sind sie nicht flankierende, sondern oft die einzigen Quellen der Berichterstattung.

Scharfer Protest aus Berlin

Die Europäische Union und die USA protestierten einhellig gegen das Vorgehen des Regimes. Die britische Regierung bestellte den libyischen Botschafter in London ein, um ihre "absolute Verurteilung" auszudrücken. In Berlin ließ Angela Merkel ausrichten, sie verurteile die Gewalt "auf das Schärfste".

Die Kanzlerin sei "bestürzt", sagte ihr Sprecher Steffen Seibert. Die Bundesregierung appelliere an die libysche Führung, die Versammlungsfreiheit zu gewähren und den Dialog mit der Bevölkerung zu suchen. Außenminister Guido Westerwelle rief deutsche Staatsbürger auf, Libyen zu verlassen. Mehrere deutsche Unternehmen ziehen ihre Mitarbeiter aus dem Land ab - darunter der Elektrokonzern Siemens und der Energiekonzern RWE.

Die türkische Regierung in Ankara teilte mit, türkische Unternehmen in Libyen seien Opfer von Plünderungen geworden. Der Schaden belaufe sich auf 15 Milliarden Dollar. Türkischen Bürgern sei aber nichts angetan worden. Eine Istanbuler Fährreederei teilte mit, auf Bitten der türkischen Regierung seien zwei ihrer Schiffe nach Libyen unterwegs. Die Fähren hätten genug Platz für 1200 Passagiere und führten Lebensmittel für 3000 Menschen mit sich. Eine Fregatte werde als Eskorte mitgeschickt.

Monolog des Diktatorensohns

Diktatorensohn Saif al-Islam al-Gaddafi wandte sich in einer Fernsehansprache an das Volk, die das libysche Staatsfernsehen in der Nacht zum Montag ausstrahlte. Jede Nachdenklichkeit war aus dem Gesicht des 38-Jährigen gewichen - stattdessen erkannten viele darin Verzweiflung und Zorn.

Immer wieder mit dem Zeigefinger drohend, sagte er, jeder Versuch einer "Facebook-Revolution" wie in Ägypten oder Tunesien werde niedergeschlagen. "Wir werden bis zum letzten Mann, bis zur letzten Frau, bis zur letzten Kugel kämpfen." Das Land stehe am Scheideweg: "Entweder wir verständigen uns jetzt auf Reformen, oder wir werden nicht nur den Tod von 84 Menschen beweinen, sondern von Tausenden."

Was ein autokratisches Regime wie das libysche unter "verständigen" versteht, ist fraglich. Klar aber ist, dass Gaddafi ein Schicksal wie das der tunesischen und ägyptischen Machthaber Ben Ali und Mubarak um jeden Preis vermeiden will. Die Demonstranten, die laut Medienberichten die zweitgrößte Stadt Bengasi unter ihre Kontrolle gebracht haben und nun Tripolis in Angriff nehmen, können anders als etwa in Kairo keinen Schutz durch das Militär erwarten.

Internetzugang gesperrt

Während soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter bei der ägyptischen Revolution eine wichtige Rolle spielten, kann in Libyen von einer "digitalen Revolution" eher keine Rede sein. Nur etwa fünf Prozent der Libyer haben einen Internetzugang, in Ägypten sind es mehr als 25 Prozent. Dass Saif al-Islam al-Gaddafi in seiner Ansprache die "Facebook-Revolution" explizit erwähnte, spricht jedoch dafür, dass die sich Diktatorenfamilie durchaus vom Internet bedroht fühlt. Am Sonntag soll der Zugang mehrfach unterbrochen worden sein - der größte Internetprovider, Libya Telecom & Technology, wird von Gaddafis ältestem Sohn Muhammad geführt.

Wo sich der Diktator selbst aufhält, ist unklar. Bei Twitter kursieren bereits Gerüchte, Muammar al-Gaddafi habe angesichts der Proteste das Land verlassen und sei nach Venezuela geflüchtet. Dafür gibt es keine Bestätigung - doch der nervöse Auftritt des Sohnes vor der Kamera lässt Experten zu dem Urteil kommen, dass Gaddafi tatsächlich um seine Macht bangt.

Umbruch in der arabischen Welt
:"Gaddafi, du bist ein Mörder"

Nach dem Ausbruch der blutigen Proteste in Libyen solidarisieren sich Menschen auf der ganzen Welt mit der unterdrückten libyschen Bevölkerung.

"Libyen ist nicht wie Tunesien oder Ägypten", sagte Saif al-Islam al-Gaddafi mit beinahe flehendem Unterton in seiner Fernsehansprache. "Libyen hat keine Zivilgesellschaft oder politische Parteien. Hier gibt es Stämme, Clans und Allianzen." Vor allem um Letztere will sich das Regime nun offenbar bemühen, um den Ölexport, die wichtigste Geldquelle des Landes, nicht zu gefährden. Ein Stammesführer soll bereits damit gedroht haben, der Regierung den Ölhahn zuzudrehen.

Gaddafi versucht außerdem, das Schreckgespenst eines zersplitterten, islamisch-fundamentalistischen Landes zu zeichnen, für den Fall, dass er abdanken muss. Dem Westen präsentierte er sich zuletzt als verlässlicher Partner, wenn auch mit skurrilen Eigenarten. Besonders mit Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi pflegt Gaddafi enge Kontakte - die Reisen des Revolutionsführers nach Rom samt Zelt und Entourage sind legendär. Bei seinem Besuch im Jahr 2010 soll Gaddafi versucht haben, 200 italienische Models zum Islam zu bekehren.

Gemäßigter Reformer

Bei der libyschen Bevölkerung verstärkten derlei Anekdoten nur den Hass auf das Regime. Die Arbeitslosenrate beträgt 30 Prozent, die junge Bevölkerung - das Durchschnittsalter liegt bei 24 Jahren - sieht keine Perspektive. Dass die Großfamilie Gaddafi ein Leben in Saus und Braus führt - in Deutschland machte vor allem sein jüngerer Sohn Saif al-Arab al-Gaddafi durch sein luxuriöses Leben in München Schlagzeilen -, trägt nicht eben zur Entspannung der Lage bei.

Die Situation erinnert stark an die Situation in Tunesien oder Ägypten vor dem Umsturz des jeweiligen Regimes. Die libyschen Demonstranten fühlen sich entsprechend ermutigt, ihr Schicksal ebenfalls selbst in die Hand zu nehmen. Ob die von Saif al-Islam al-Gaddafi versprochenen Reformen die Regimegegner zufriedenstellen können, erscheint mehr als fraglich. Dabei gilt der 38-Jährige als gemäßigter Politiker, der 2007 den Reformflügel des Regimes anführte. Ihm wird ein maßgeblicher Anteil an Libyens Weg aus der Isolation zugeschrieben, der zur Aufhebung langjähriger UN- und US-Sanktionen führte.

"The desert ist not silent"

In der Fernsehansprache in der Nacht zu Montag entschuldigte er sich für die "Fehler" der Armee - sie sei nicht für den Einsatz bei Demonstrationen ausgebildet. Gleichsam drohte er mit einem "Blutbad", sollten die Proteste nicht aufhören. Das Militär stehe hinter seinem Vater, sagte Saif al-Islam. Ein Experte des TV-Senders al-Dschasira sprach von einer "verzweifelten Rede" des Diktatorensohns.

Bei Twitter und Facebook schweigt dieser derweil zu den Geschehnissen in seinem Land. Stattdessen hat er Informationen zu der karitativen Organisation Gaddafi International Charity and Development Foundation gepostet, die er leitet. Auf der Website der Stiftung wendet sich Gaddafi an Bundeskanzlerin Angela Merkel und kritisiert eine deutsche Waffenlieferung an Israel.

Ins Leere führt dagegen ein Link zu einer Kunstausstellung, bei der Gaddafi eigens angefertigte Landschaftsbilder aus Libyen präsentierte. Der Titel war aus heutiger Sicht prophetisch gewählt: "The desert ist not silent" - die Wüste ist nicht still.

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