Unruhen in Ägypten:"Mubarak profitiert von der Existenzangst vieler Bürger"

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Nicht nur organisierte Trupps demonstrieren für Mubarak. Auch viele eher unpolitische Bürger solidarisieren sich mit dem Präsidenten, sagt die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy.

M. C. Schulte von Drach

Durch das Auftreten der Mubarak-Anhänger sind die Unruhen in Ägypten eskaliert. Wer sind diese Menschen und wohin steuert Ägypten nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen? Fragen an die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Viele Pro-Mubarak-Demonstranten wurden vom Regime zusammengetrommelt. Aber das gilt nicht für alle. (Foto: Reuters)

sueddeutsche.de: Viele, die die Proteste in Ägypten verfolgt haben, hat das Auftreten der Mubarak-Anhänger überrascht. Wer sind diese Menschen, woher kommen sie?

Sonja Hegasy: Ich habe von Augenzeugen gehört, dass es tatsächlich vom Regime organisierte Kräfte gibt, die gegen die Mubarak-Gegner vorgehen.

Sie wurden mit Bussen und Lastwagen in die Nähe des Tahrir-Platzes gebracht, hatten Stöcke und Molotowcocktails dabei.

Aber es gibt viele ägyptische Bürger, die sich mit diesen Kräften solidarisieren.

sueddeutsche.de: Warum kämpfen sie plötzlich für Mubarak?

Hegasy: Es sind unter anderem Leute, die sonst eher unpolitisch sind. Angehörige der Mittelklasse, die von Mubaraks Rede am Montagabend beeindruckt sind. Er hat sich als Sohn des Landes dargestellt, der in Ägypten geboren ist und auch dort sterben will. Diese Menschen fragen die Demonstranten: "Was wollt ihr mehr, er geht ja im September. Wir wollen kein Chaos mehr, keine Instabilität."

Außerdem ist es eine Katastrophe für viele Menschen, wenn Tourismusunternehmen keine Reisenden mehr ins Land bringen. Manche Beamte kommen zurzeit nicht an ihr Gehalt, manche können ihre Familien nicht mehr versorgen. Mubarak profitiert von Existenzängsten vieler Bürger.

sueddeutsche.de: Können diese Menschen die Kritik am Präsidenten nicht nachvollziehen?

Hegasy: Man muss sich im Klaren sein, dass Hosni Mubarak nicht vergleichbar ist mit beispielsweise dem Schah von Persien. Er steht in Ägypten für viele Menschen nicht für Bereicherung, Luxus, Korruption und Folter. Auch wenn es natürlich Folter und Misshandlungen durch die Polizei gibt, und eine Oberschicht existiert, die sich im Rahmen der Privatisierungen in den vergangenen 15 Jahren bereichert hat.

Aber Mubarak hat dem Land nach etlichen Kriegen 30 Jahre Frieden beschert. Er hat den Sinai zurückgebracht und einen nationalen Dialog mit den Muslimbrüdern organisiert. Nach den Wahlen 2005 waren die Muslimbrüder als unabhängige Kandidaten zu 20 Prozent im Parlament vertreten. Solche Prozesse passen aus Sicht vieler Ägypter nicht in das Bild eines Autokraten, der sich nur mit Hilfe eines überproportional großen Sicherheitsapparats an der Macht halten könnte.

sueddeutsche.de: Die Muslimbrüder durften als Partei nicht antreten.

Hegasy: Weil es ein Gesetz gibt, das verbietet, dass Parteien sich auf religiöser Basis gründen. Auch Christen dürfen keine Partei gründen, die sich als christlich versteht. Und jeder weiß, dass es sich bei den Abgeordneten um Muslimbrüder handelt.

sueddeutsche.de: Droht ein Bürgerkrieg zwischen den Mubarak-Anhängern und seinen Gegnern?

Hegasy: Das glaube ich nicht. Die Führer der Opposition, der Vorsitzende der Al-Wafd-Partei, Said Badawi, Mohamed ElBaradei, der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Musa, die Führer der Muslimbrüder, das sind alles altgediente Politiker, die kein Blutvergießen wollen. Sie werden sich deeskalierend einschalten.

sueddeutsche.de: Werden sie sich auf Mubaraks Vorschläge einlassen?

Hegasy: Manche Ägypter meinen, Mubarak spiele nur auf Zeit und will die nächsten neun Monate nutzen, um sich den Machterhalt zu sichern. Die Opposition kann darauf hinwirken, dass Mubarak tatsächlich gehen wird.

sueddeutsche.de: Sie würden sich damit zufriedengeben, zu verhindern, dass Mubarak sein Versprechen bricht?

Hegasy: Wenn die oppositionellen Politiker versprechen, dafür zu sorgen, dass Mubarak wirklich geht, könnten sie einen Kompromiss erwirken. Es wäre eines der Mittel der Deeskalation. Denn die Gewalt, die wir jetzt sehen, wollen die Initiatoren der Demonstrationen auch nicht.

sueddeutsche.de: Manche bewerten die Entwicklung in der arabischen Welt als historische Zäsur. Es ist die Rede vom größten Umsturz seit dem Fall der Berliner Mauer. Wie bewerten Sie das?

Hegasy: Es ist tatsächlich eine historisch einmalige Situation. Zwei Dinge beeindrucken mich besonders: Die ägyptische Armee kündigt noch vor der großen Demonstration letzten Freitag an, nicht auf Demonstranten zu schießen und erklärt, dass sie deren Forderungen unterstützt. Das hätte keiner erwartet. Das revidiert auch unser Bild vom Militär.

Und es ist eine Überraschung, dass Tausende Menschen aller Schichten und Altersstufen auf diese Weise demonstrieren. Es gibt Mundpropaganda, und über das Internet - über Facebook - werden Hinweise verbreitet, wie man gewaltlos und deeskalierend demonstriert.

Aber manche Beschreibungen werden der Situation nicht gerecht. Viele Menschen glauben ja an ihre Staatsoberhäupter. Und Demonstrationen in arabischen Ländern gibt es auch schon länger, auch wenn das im Westen weitgehend ignoriert wurde.

sueddeutsche.de: Also kann man nicht von einer Art Dominoeffekt sprechen, bei dem Tunesien zuerst gekippt ist, und sich die Unruhen von dort aus in die anderen arabischen Länder ausbreiten?

Viele der Menschen, die jetzt für Mubarak auf die Straße gehen, sind sonst eher unpolitisch, fürchten aber nun, dass die Proteste gegen den Präsidenten Chaos und Instabilität bedeuten, meint Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin. (Foto: Oliver Möst)

Hegasy: Ich würde das nicht so beschreiben. Vor allem lässt sich nicht vorhersagen, was in den anderen Ländern geschehen wird. Dafür sind die Verhältnisse zu unterschiedlich, die Persönlichkeiten der Staatschefs und die Mechanismen des Machterhalts sind zu verschieden. Und die Politiker der Europäischen Union scheinen zu wenig über die sozialen Bewegungen in den Ländern zu wissen.

sueddeutsche.de: Besteht aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass islamische Fundamentalisten in Ägypten oder anderen arabischen Ländern an die Macht kommen und es weitere Gottesstaaten wie Iran geben wird?

Hegasy: Nein. Ägypten jedenfalls hat seine Erfahrungen mit islamistischem Terror schon gemacht und die Bevölkerung hat kein Interesse daran, einen der wichtigsten wirtschaftlichen Pfeiler zu beschädigen, den Tourismus. Die Ägypter sind nicht antiwestlich eingestellt, wie wir auch an den Demonstrationen sehen.

sueddeutsche.de: Und andere Länder?

Hegasy: Algerien ist aus meiner Sicht sehr instabil. Es herrscht eine Friedhofsruhe. Dort gab es in den neunziger Jahren einen Quasi-Bürgerkrieg. Und die Auseinandersetzung zwischen Staat und Gesellschaft über diesen blutigen Konflikt fällt noch immer schwer.

sueddeutsche.de: Die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland haben sich mit Kritik an den autoritären Machthabern der arabischen Welt zurückgehalten. Jetzt werden die Proteste begrüßt und als Demokratiebewegung gelobt. Hat der Westen versagt?

Hegasy: Ich wundere mich vor allem über die Amerikaner. Die haben schon nach den Anschlägen von 2001 erklärt, dass es falsch sei, erst Frieden und dann Demokratisierung anzustreben. Mit Blick besonders auf Saudi-Arabien hatte es geheißen, man könne solche repressiven Regime nicht um jeden Preis stützen. Man müsse zum Beispiel mehr Mitsprache der Bevölkerung, politische Partizipation, Pluralisierung der Medien und so weiter fordern. Dann hätte man zum Beispiel für Ägypten oder Tunesien schon früher ernsthaft Reformen fordern müssen.

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