Unruhen in Ägypten:Die blutige Nacht von Kairo

Steinewerfer, Schlägertrupps und Militärfahrzeuge, die Menschen zermalmen: Im Herzen Kairos toben die blutigsten Unruhen seit dem Sturz Mubaraks. Religiöse Unruhen sind es keine, die Islamisten verdammen sogar den Gewaltexzess. So irre es klingt, aber das herrschende Militärregime könnte Interesse an einer Verschärfung der Lage haben.

Tomas Avenarius, Kairo, Kathrin Haimerl und Oliver Das Gupta, München

Die Bilder im Internet zeigen einen gepanzerten Mannschaftswagen, der mit hoher Geschwindigkeit die Straße am Ufer des Nils entlangfährt: Der tonnenschwere Militärlaster jagt einzelne Protestierer, verfolgt sie gezielt, schlägt immer neue Haken, scheint mindestens einen Mann zu überfahren.

Trauer bei Kairos Kopten: Zug mit den Särge der Christen, die bei dem Gewaltexzess ums Leben kamen.

Trauer bei Kairos Kopten: Zug mit den Särge der Christen, die bei dem Gewaltexzess ums Leben kamen.

(Foto: AFP)

Dann bricht der Truppentransporter mitten in eine Menschenmenge. "Die Soldaten haben die Demonstranten mit Absicht überfahren", sagt Sally Moor, eine Psychiaterin mit irischen und koptischen Wurzeln, die auf den nahen Tahrir-Platz geflüchtet ist. Moor ist der Jugendbewegung verbunden, die im Frühjahr die ersten Proteste gegen das Regime Mubaraks organisiert hatte. Nun räumt sie ein, dass auch Militärangehörige starben: "Ja, dann sind auch Soldaten getötet worden. Es geschah aus Wut über die Armee."

Den ganzen Abend über flogen Steine und Molotowcocktails im Zentrum von Kairo, krachten Tränengasgranaten, fielen vereinzelt Schüsse am Nil-Ufer. Militärfahrzeuge und Autos brannten. Die Krawalle griffen über auf den nahen Abdel-Monem-Riad-Platz, einen riesigen Busbahnhof und schwappten auf den angrenzenden Tahrir-Platz über, den Geburtsort der ägyptischen Revolution.

Knüppelschwingende Jugendliche prägten das Bild und Männer auf Motorrädern: Sie waren gekommen, um Krawall zu machen. Es handelte sich sowohl um Christen als auch Muslime.

Auf den am gegenüberliegenden Nil-Ufer dümpelnden Restaurantschiffen ging das Leben unterdessen weiter; kleine Vergnügungsdampfer fuhren dazu den Fluss auf und ab, bunt beleuchtet und die nächtliche Gewaltszene mit Musik aus billigen Lautsprechern beschallend: Die Hochzeitsgesellschaften bekamen an diesem Abend mehr zu sehen als nur Braut und Bräutigam.

Die Zusammenstöße vom Sonntagabend waren die blutigsten Unruhen seit dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak am 11. Februar: Mindestens 24 Tote, deutlich mehr als 200 Verletzte - manche Quellen geben an, dass sogar mehr als 35 Menschen bei den Ausschreitungen gestorben sind.

Zum ersten Mal sterben auch Soldaten

Immer wieder entlädt sich Gewalt in der ägyptischen Haupstadt und doch hat die jüngste Blutnacht eine neue Qualität: Zum ersten Mal wurden auch ägyptische Soldaten getötet.

Und zum ersten Mal standen die Christen als Gruppe gegen das Militär. Aber auch wenn das Klischee naheliegt: Die nächtlichen Zusammenstöße waren keine religiösen Unruhen - denn es waren keine Islamisten zu sehen.

Gegen die Christen standen die ägyptische Armee und offensichtlich vom Staat oder den Kräften des alten Regimes angeheuerte Schlägertrupps - in Ägypten sind das traditionell käufliche Fachkräfte für blutige Jobs bei Demonstrationen. Die offizielle Version ist, dass Anwohner den von den Christen bedrängten Soldaten zu Hilfe kommen wollten. Wer geschossen hat, ist unklar.

In Internetforen gibt es wegen der unübersichtlichen Lage eine Menge Geraune. Manche wähnen ausländische Quellen am Werk. Einige sagen, die Christen hätten einigen Soldaten die Gewehre abgenommen.

Sehr verlässlich sind die Quellen nicht: Staatliche Organe verhinderten angeblich sogar, dass private TV-Sender direkt aus der Kampfzone berichteten. Was bleibt, sind die mit Vorsicht zu interpretierenden Versionen des Staatsfernsehens, von Bloggern und Augenzeugen.

"Die Gewalt ist beispiellos"

So schildern Demonstrationsteilnehmer auf der Webseite almasryalyoum, wie zwei Panzerspähwagen der Armee in die Menschenmenge steuerten. Im Internet kursieren inzwischen Fotos und Videos von zerquetschten Menschen. "Die Gewalt ist beispiellos", resümierte ein Menschenrechtsaktivist im Gespräch mit dem Guardian. Viele Muslime sollen den koptischen Demonstranten auch zur Hilfe geeilt sein, um sie vor den Sicherheitskräften zu verteidigen.

Worte, die nach harter Hand klingen

Ausführlich beschreibt Hani Bushra bei Facebook, wie die Gewalt im Herzen Kairos tobte. Christen, Muslime, das Militär - alle haben laut seinen Worten mitgemischt. Bushra, ein ägyptischstämmiger Christ mit US-Pass, schildert vergebliche Versuche zu beschwichtigen, er schreibt über untätige Polizisten und über Soldaten, die helfen und andere, die aufwiegeln.

Die ägyptischen Behörden nahmen Dutzende Menschen fest. "Anstiftung zu Chaos" wirft man ihnen vor. Der regierende Militärrat erklärte inzwischen, die Christen hätten die Soldaten attackiert, obwohl diese doch nur zu ihrem Schutz dagewesen seien. Die Christen erzählten die Geschichte andersherum, sprechen von einem gezielten Angriff des Militärs. Schmährufe gab es wohl von allen Seiten: Auf ihrem Zug quer durch Kairo sollen die Demonstranten "Nieder mit dem Marschall!" skandiert haben. Der Marschall ist Armeechef Hussein Tantawi, der Kopf des Militärrats.

Auch wenn die Unruhen kein religiöser Konflikt sind, könnten sie einen solchen auslösen: Ägypten ist ein mehrheitlich sunnitisch-islamisches Land, etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind jedoch koptische und andere Christen. Das Verhältnis zwischen den Religionsgruppen ist überwiegend friedlich, seit Jahrhunderten leben Kopten und Muslime miteinander. Doch oft genügen kleine Anlässe, um blutigen Aufruhr zu entflammen - das passiert häufiger seit den revolutionären Umwälzungen vom Frühjahr. Seit März sind etwa 100.000 koptische Christen nach Angaben einer Menschenrechtsorganisation emigriert. Viele fürchten eine Machtübernahme radikaler Islamisten.

Eine Verwicklung in den jüngsten Gewaltausbruch weisen die radikalen Muslime entschieden zurück. Man verurteile, was geschehen ist, versicherte ein Sprecher der Salafisten-Bewegung.

Auch die Jugendbewegung des 6. April wetterte gegen die Zusammenstöße. Das sei die Eskalation als Versuch, "den friedlichen Charakter der Revolution" zu zerstören. "Diese Ereignisse führen zu Blutvergießen auf beiden Seiten der ägyptischen Bevölkerung. Genau dies wollen wir nicht. Wir fordern eine sofortige Untersuchung der Geschehnisse." An den Massendemonstrationen, die zum Sturz Mubaraks führten, waren auch Angehörige der christlichen Minderheit beteiligt.

Für das Regime meldete sich der amtierende Regierungschef Essam Scharaf im Staatsfernsehen zu Wort. Er sprach mit Blick auf das Blutvergießen von einer "Gefahr für die Sicherheit des Landes" und von einer "Verschwörung". In einer Stellungnahme seines Kabinetts heißt es, dass die Regierung es nicht zulassen werde, dass "irgendeine Gruppe die nationale Einheit Ägyptens gefährde oder den Prozess des demokratischen Übergangs verzögere". Worte, die nach harter Hand klingen, nach repressiven Maßnahmen.

Kairos Blutsonntag könnte dem herrschenden Militär entgegenkommen: Wenn sich die Lage im Lande verschärft, wäre das ein probater Vorwand, drakonische Sicherheitsmaßnahmen zu erlassen - und die neuen politischen Freiheiten einzuschränken: Ende November soll ein Parlament gewählt werden. Der Ausgang dieser Wahl ist nicht vorherzusagen. Aber mit der kommenden Regierung und dem neuen Parlament werden die Generale zusammenarbeiten müssen. Eine Verschiebung der Abstimmung könnte also durchaus im Sinne der derzeitigen Machthaber sein.

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