Ungarn:Im Zweifel für den Flüchtling

Ein Gericht hebt das harte Urteil gegen einen syrischen Flüchtling auf und ordnet ein neues Verfahren an. Dies dürfte Premier Victor Orbán, bekannter Kritiker der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, ärgern.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Als das europäische Parlament Mitte Mai in einer Resolution die "systematische Bedrohung des Rechtsstaats" in Ungarn kritisierte, war in der Debatte auch der Fall des Syrers Achmed H. aufgekommen. Er war Anfang 2016 von einem ungarischen Gericht zu zehn Jahren Haft wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt worden. Der Hintergrund: H. war vorgeworfen worden, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 als Rädelsführer einen Sturm auf den Grenzzaun im Grenzort Röszke angeführt zu haben. Das Verfahren habe sich durch einen Mangel an Beweisen und zweifelhafte Zeugenaussagen ausgezeichnet, überdies sei das Urteil unmäßig hart und der Vorwurf des Terrorismus nicht haltbar, so die Kritik. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó warf der EU daraufhin vor, einen "Terroristen freigesprochen" und sich "gegen Ungarn" gestellt zu haben. Kurz darauf äußerte sich auch Viktor Orbán: "Brüssel stellt sich auf die Seite von Terroristen , so der Premier.

Achmed H. wurde vom früheren Justizminister vertreten, der das Verhalten der Polizei verurteilte

Nun hat sich, wenn man diese Diktion aufnehmen will, auch ein ungarisches Gericht auf die Seite des "Terroristen" Achmed H. gestellt. Ein Berufungsgericht im südungarischen Szeged, nahe bei Röszke, hob das Urteil gegen Achmed H. auf und ordnete ein neues Verfahren an. In erster Instanz war er verurteilt worden, weil er per Megafon andere Flüchtlinge aufgepeitscht und Gegenstände auf Polizisten geworfen haben soll. Die Berufungsrichter kritisierten nun, dass die Vorinstanz den Aussagen von Polizisten grundsätzlich mehr Glaubwürdigkeit beigemessen habe als anderen Zeugen; dass sich Aussagen widersprochen hätten und der Ablauf insgesamt unklar geblieben sei. Der Angeklagte könne nicht als Einzelperson für die Tat einer Gruppe haftbar gemacht werden; die Rädelsführerschaft sei Achmed H. nicht eindeutig nachzuweisen gewesen.

Der Flüchtling selbst, gegen den neben der zehnjährigen Haft anfangs auch ein lebenslanges Aufenthaltsverbot in der EU verhängt worden war, sagte in seinem Schlusswort, er sei nicht gewalttätig gewesen, sondern habe vielmehr in der aufgeheizten Lage an der Grenze, an der wegen der hohen Zahl nach Norden drängender Personen damals eine bedrohliche Lage geherrscht habe, per Megafon vielmehr zur Ruhe aufgerufen. Er habe nichts gegen die Ungarn oder den Staat Ungarn, wolle aber jetzt zu seiner Familie zurück, die mehrheitlich in Zypern lebt. H. wurde vom früheren sozialdemokratischen Justizminister Peter Bárándy vertreten, der das Vorgehen der Polizei verurteilte und sich gegen das erste Urteil verwahrte, in dem der muslimische Glaube seines Mandanten eine negative Rolle gespielt habe. H. selber sagte, die Tatsache, dass er Muslim sei, habe ihn "automatisch schuldig" sein lassen.

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen hatten nach dem erstinstanzlichen Urteil kritisiert, hier sei offenbar eine Art Schauprozess gegen einen Flüchtling abgehalten worden - zur Abschreckung und Demonstration von Härte. Sie begrüßten die neue Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft zeigte sich gleichwohl uneinsichtig; sie lehnte ein neues Verfahren ab und forderte die Erhöhung der Strafe auf bis zu 20 Jahre.

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