Ungarn:Der furchtbar fruchtbare Boden für Orbáns Saat

Ungarn: Demonstration der Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei (MIÉP) 2001, die sich als national-konservativ bezeichnete. Bei der Wahl im Folgejahr schaffte es die Partei nicht mehr ins Parlament in Budapest.

Demonstration der Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei (MIÉP) 2001, die sich als national-konservativ bezeichnete. Bei der Wahl im Folgejahr schaffte es die Partei nicht mehr ins Parlament in Budapest.

(Foto: Associated Press)

Viktor Orbáns Politik hat viele historische Vorläufer in Ungarn. Über Jahrzehnte hat der Journalist Karl Pfeifer dokumentiert, wie stark antisemitisch grundierter Nationalismus das Land prägt.

Rezension von Oliver Das Gupta

Wie konnte es nur soweit kommen? Viktor Orbán entwickelt sich mit seiner Fidesz-Partei vom liberalen Intellektuellen der Wende-Zeit zum betont illiberalen Nationalisten. Seit 2010, dem Beginn seiner zweiten Amtszeit als Regierungschef, wandelt Orbán Ungarn immer autoritärer um.

Westliche Werte schmäht er als dekadent ebenso wie die EU. Seine Wahlkampagne gegen den ungarischstämmigen US-Investor George Soros trieft nur so von antisemitischen Stereotypen. Sein Land sieht er eingekreist von einer Art Weltverschwörung, die Europa mit muslimischen Migranten fluten will.

Orbáns Rechtsdrift mag verblüffen, ebenso der Rückhalt, den Fidesz in der zum nicht unwesentlichen Teil in Armut darbenden Bevölkerung genießt. Doch die Ursachen wurzeln tief in der ungarischen Geschichte, wie der österreichische Journalist Karl Pfeifer in einem Ende 2016 erschienenen Buch anschaulich dokumentiert.

"Immer wieder Ungarn" ist ein Kompendium von Texten, die der Wiener seit Ende der siebziger Jahre über aktuelle Entwicklungen und historische Begebenheiten verfasst hat - eine Lektüre die sich lohnt, wenn man Orbáns Ungarn besser verstehen will.

Ein Pamphlet behauptet: Die Juden haben selbst schuld an ihrer Vernichtung

Pfeifer, Sohn von aus Ungarn eingewanderten Juden, ist zweisprachig aufgewachsen. Auch aus diesem Grund fallen ihm schon zur Zeit des Kalten Krieges Dinge auf, die anderen Beobachtern entgehen: Das Elend der Sinti und Roma, die Korruption, die Alkoholkranken und die immens hohe Selbstmordrate - in der damals angeblich "lustigsten Baracke" des sozialistischen Ostblocks herrschten wahrlich keine besonders heimeligen Zustände.

Besonders interessant sind die Texte, in denen Pfeifer die Kontinuität eines völkischen Ungarntums beschreibt, das auch im Kommunismus antisemitisch grundiert war. So erschien 1984 in einem staatlichen Militärverlag das Pamphlet "Israelische Kundschafter", Auflage 70 000 Stück. Darin wird unter anderem den Juden die Schuld daran gegeben, dass sich Budapest 1943 nicht mit den West-Alliierten verständigen konnte. Im Folgejahr ließen Hitlers ungarische Verbündete 400 000 Juden in deutsche Vernichtungslager deportieren. Das Buch suggeriert also: Ihr Juden habt selbst schuld.

Der Boden für das heutige völkisch-nationalistische Ungarn war schon zu kommunistischen Zeiten furchtbar fruchtbar.

Nach außen gab sich das Regime in den achtziger Jahren betont freundlich gegenüber Juden, aber in der Realität wurde jüdische Kultur unterdrückt, wenn es nicht ums Beten ging. 1987 notiert Pfeifer, wie ein Polizeioffizier einen Juden stundenlang verhört, weil der einen Hebräisch-Kurs veranstaltet hat. "Es ist besser für euch, wenn ihr euch assimiliert", sagt der Beamte - Leitkultur auf Ungarisch.

Ebenso drastisch damals wie heute: die Diskriminierung von Sinti und Roma, selbst liberale Medien schreiben über sie abfällig. Im Wendejahr 1989 berichtet Pfeifer von einer Umfrage der Kommunistischen Partei im Bezirk Borsod unter ihren Mitgliedern. Ergebnis: Zehn Prozent halten eine "Endlösung der Zigeunerfrage für wünschenswert (...), das heißt Sterilisation oder physische Vernichtung."

Ungarn: Karl Pfeifer: Immer wieder Ungarn. Autobiographische Notizen, Nationalismus und Antisemitismus in der politischen Kultur Ungarns - Texte 1979 bis 2016. Edition Critic, Berlin 2016, ISBN 978-3-946193-10-4.

Karl Pfeifer: Immer wieder Ungarn. Autobiographische Notizen, Nationalismus und Antisemitismus in der politischen Kultur Ungarns - Texte 1979 bis 2016. Edition Critic, Berlin 2016, ISBN 978-3-946193-10-4.

(Foto: Edition Critic)

Bezeichnend war auch die erste Begegnung Pfeifers mit Ex-Premier András Hegedüs 1979: Der stand wortlos auf und ging weg, nachdem ihm der Journalist gesagt hatte, dass er Sohn ungarischer Juden sei. Hegedüs war kein Antisemit, aber er reagierte schockiert, weil Pfeifer ein Tabu gebrochen hatte: Damals wurde das Wort "Jude" unter Intellektuellen nicht ausgesprochen.

In Ungarn wurde zuallererst der Eiserne Vorhang gekappt, die kommunistische Diktatur endete, das Land erfuhr eine rasche Demokratisierung. Der Gedanke von einem völkisch-reinen Ungarntum war nun noch deutlicher wahrzunehmen.

Sándor Csoóri, ein Dichter und Mitglied der konservativen Regierungspartei MDF, schwadronierte 1990 von einer jüdischen Gefahr für "Geist und Denkweise" des Ungarntums - und warnte vor einem "Absterben der Nation", wie Pfeifer schrieb. Schon damals gab es Versuche, den ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy zu rehabilitieren, der sei "kein Antisemit" gewesen, behauptete Ministerpräsident József Antall. Sein heutiger Amtsnachfolger Orbán hat einen ähnlich milden Blick auf den Hitler-Kumpan, der in mehreren Etappen judenfeindliche Gesetze erließ.

Sichtbar werden in den neunziger Jahren auch rechte Gewalt und offener Rassismus in Ungarn. 1992 reiht Pfeifer in einem Artikel für den Wiener Standard mehrere Vorfälle auf: Ein "Feldhüter" erschoss zwei Roma, weil sie Birnen gestohlen hatten. Zwei Skinheads, einer davon angehender Militär, traten einen Rom "mit ihren Stiefeln zu Tode". Die Tür des Budapester Oberrabbiners wurde mit einem benzingetränkten Stofffetzen angezündet. Die Hauptsynagoge wurde geschändet.

Der Orbán-Freund, für Pfeifer ein "Fäkal-Antisemit"

Manche Argumentationen gleichen denen der Rechtsextremisten von heute: Eine mit öffentlichen Geldern gegründete regierungsnahe Zeitung nimmt einen Holocaust-Relativierer in Schutz - und beklagt gleichzeitig, dass "Gedanken und Meinungsfreiheit beiseite getan".

In Orbáns erster Amtszeit als Premierminister (1998 bis 2002) wurden rechte Sprüche in seiner Fidesz-Partei vernehmbar. "Sie glaubt damit den Rechtsextremen den Wind aus den Segeln zu nehmen", schreibt Pfeifer im Jahr 2000. Orbán und seine Partei grenzten sich bewusst nicht vom rechten Rand ab, Fidesz behandele die antisemitische Wahrheitspartei MIÉP "als stillen Partner". Früher wurde Fidesz vorgeworfen, die lange Zeit rechtsextrem positionierte Jobbik-Partei zu verharmlosen - so wie damals MIÉP. Inzwischen tritt Jobbik mitunter gemäßigter auf als Fidesz, so Pfeifer.

Die Wahrheitspartei MIÉP hatte immer wieder behauptet, Ungarn sei eingekreist von jüdischen Verschwörern, die es fremdbestimmen und auflösen will - die Ähnlichkeiten zur aktuellen Anti-Soros-Kampagne Orbáns sind frappierend.

Mit drastischem Vokabular und unverhohlenem Nationalismus zielte Fidesz schon damals auf politische Mitbewerber. Der Chef von Orbáns Wahlkampagne attackierte 2001 Sozialisten und Liberale als "geistig Vaterlandslose" an, die Lügen "als Exportware in der Welt verbreiteten". Und Zsolt Bayer, Mitbegründer von Fidesz, klang schon zur Jahrtausendwende so, wie deutsche Neonazis: "Nur das jüdische Leiden muss beachtet werden, weswegen wir schon seit Jahrzehnten büßen müssen", zitiert Pfeifer den "persönlichen Freund" des heutigen Premiers.

Bayer, den Pfeifer wegen seiner vulgären Sprache einen "Fäkal-Antisemiten" nennt, schmähte später mehrere Politiker mit jüdischem Hintergrund wie Daniel Cohn-Bendit, als "stinkendes Exkrement".

Bayer holzte auch nach Beginn von Orbáns zweiter Regierungszeit (seit 2010) kräftig weiter. Über Sinti und Roma sagte er: "Diese Tiere sollen nicht existieren, nirgendwo." Bayers Vokabular wirkt im Nachhinein wie eine Ouvertüre der Parolen, die aus Budapest seit der Flüchtlingskrise 2015 tönen. Pfeiffer notiert schon 2013, wie Orbáns alter Weggefährte über den drohenden Untergang der "weißen, christlichen Rasse" schwadroniert und sich über die "überall Faschismus witternde Achtundsechziger-Generation" beklagt.

Orbáns selbst sucht inzwischen wie andere europäische Rechtspopulisten und Rechtsradikale demonstrativ Nähe zu Juden und zu Israel. Die deutsche CSU, aber auch die neue rechtskonservative Regierung in Österreich hofieren Orbán.

Journalist im 90. Lebensjahr

Ein weiteres Buch wird Pfeifer eher nicht schreiben, aber sehr wohl Texte für Zeitungen. Es gibt wohl keinen anderen Journalisten, der sowohl im linksliberalen Standard und in der linken Jungle World, als auch in der konservativen Presse und in der Welt des Axel-Springer-Verlags publiziert hat.

Etwa 250 Straßenkilometer liegen zwischen Budapest und Pfeifers Wohnort Wien. Dreimal hat ihn das kommunistische Ungarn ausgewiesen, nach der Wende war er oft dort. Hinfahren wolle er eigentlich wegen der Situation nicht mehr, schreibt der Journalist in seinem aktuellen, einleitenden Kapitel. Da ist das Alter - Pfeifer ist inzwischen im 90. Lebensjahr - aber noch etwas anderes: "Die Atmosphäre des Fremdenhasses" in Ungarn führe dazu, "dass ich mich dort nicht mehr gut fühle".

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