Unabhängigkeitsbewegungen im Rahmen des Völkerrechts:Zwischen Selbstbestimmung und Staatszerfall

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Eine proseparatistische Kundgebung in Glasgow. Wo liegen die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Völker (Foto: Getty Images)

Nicht nur die Schotten streben nach mehr Autonomie. Auch die Bewohner von Katalonien, Flandern, Südtirol oder dem Baskenland denken über eine Abspaltung nach - und beziehen sich dabei auf das Völkerrecht. Die Regierungen und die EU müssen überlegen, wie sie damit umgehen.

Von Stefan Ulrich, München

Die einen betrachten es als guten Geist des Völkerrechts, die anderen als dessen Schreckgespenst: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es einst Lenin und dann, am Ende des Ersten Weltkriegs, US-Präsident Woodrow Wilson propagierten. Es verleiht den Prinzipien von Demokratie und Volkssouveränität Schlagkraft und steht für eine internationale Ordnung, die auf Freiheit gebaut ist; auf die Freiheit eines Volkes, über sein Schicksal zu bestimmen und kolonialer oder imperialer Abhängigkeit zu entrinnen.

Anderseits kann das Selbstbestimmungsrecht anarchisch wirken, indem es zum Staatszerfall beiträgt, die Zersplitterung in Kleinstländer fördert und Gruppen innerhalb eines Staates gegeneinander aufbringt, etwa wegen der Verteilung von Bodenschätzen. Die Reichweite des Geistes beziehungsweise Gespensts ist daher heftig umstritten, wie sich im Kosovo oder auf der Krim zeigt.

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Auch in Westeuropa treibt das Selbstbestimmungsrecht die Völker um. Diese Woche besonders in Schottland, ansonsten in Katalonien, Flandern, Südtirol oder dem Baskenland. Sollten die Schotten jetzt für die Unabhängigkeit stimmen, wird das ein für November angesetztes Referendum in Katalonien befeuern und auch weitere abspaltungswillige Gebiete ermutigen.

Steht gar eine Kettenreaktion bevor? "Grundsätzlich ja", sagt der EU-Experte Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. "Wir beobachten seit längerem eine Intensivierung der Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb der EU. Gemeinsam ist ihnen zweierlei: Sie wollen neue Staaten gründen, aber im schützenden Raum der EU bleiben."

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Doch was soll gelten, wenn es nicht so britisch-pragmatisch zugeht wie im Falle Schottlands, weil sich die bisherigen Mutterstaaten einer Abspaltung widersetzen? So will Serbien nichts von einem Staate Kosovo wissen, die Ukraine lehnt ein "Neurussland" in ihren östlichen Gebieten ab, Madrid bringt das Verfassungsgericht gegen Barcelona in Stellung und Rom hält nichts von einer Republik Padanien, selbst wenn die Lega Nord dafür eine Mehrheit der Norditaliener zusammentrommeln sollte. Wie steht es in diesen Fällen um das Selbstbestimmungsrecht der Völker?

Referenden auch bald in Madrid und Brüssel?

Auf dem Papier wirkt alles klar. So heißt es in den völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen von 1966: "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft diesen Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status ..." Das scheint für ein weit reichendes Sezessionsrecht zu sprechen.

Das Selbstbestimmungsrecht ist jedoch mit einem anderen Prinzip des Völkerrechts in Einklang zu bringen - mit der territorialen Integrität der Staaten, also mit der Unverletzbarkeit ihres Hoheitsgebiets. Die vorherrschende Meinung im Völkerrecht löst diesen Wertekonflikt zugunsten des Status Quo. Ein Sezessionsrecht entsteht als letztes Mittel lediglich dann, wenn eine Minderheit schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wird und so daran gehindert wird, ihr Selbstbestimmungsrecht innerhalb des bisherigen Gesamtstaates auszuüben.

Als Beispiel dient der Kosovo. Nach Ansicht der meisten westlichen Staaten und vieler Völkerrechtler wurden die Kosovaren Ende der neunziger Jahre in Serbien derart drangsaliert, dass sie das Recht hatten, sich abzuspalten. Die Frage ist jedoch, ob dieses Recht im Jahr 2008 immer noch fortwirkte, als sich die Republik Kosovo dann tatsächlich für unabhängig erklärte. Viele Staaten, insbesondere im Westen, sehen das so, viele andere dagegen nicht.

Ein Sezessionsrecht der Krim, die sich dieses Jahr von der Ukraine abspaltete und an Russland anschloss, bestand dagegen nach westlicher Auffassung nicht, weil es zu keiner massiven Unterdrückung der auf der Krim lebenden Russen durch die Ukraine gekommen war. Krim-Referendum und Sezession sind demnach unwirksam.

Für die Unabhängigkeitsbewegungen in Westeuropa, für Schotten, Katalanen oder Padanier, bedeutet dies: Sie haben kein Recht, sich einseitig von Großbritannien, Spanien oder Italien loszusagen. Denn dort kann von schwerer Unterdrückung schon gar keine Rede sein. Sie können ihr Selbstbestimmungsrecht jedoch verwirklichen, indem sie auf (mehr) Autonomie innerhalb ihrer Staaten pochen.

Wenn die Schotten nun dennoch über ihre Unabhängigkeit entscheiden dürfen, so verdanken sie das dem Edinburgh-Abkommen vom Oktober 2012. Darin gestand der britische Premier David Cameron den Schotten zu, im Herbst 2014 ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten.

Der gute Geist der Schotten ist also nicht das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht, sondern Cameron. Katalanen oder Flamen haben keinen solchen Geist. Die Frage ist jedoch, wie lange sich die Regierungen in Madrid und Brüssel Referenden politisch verweigern können, falls die Unabhängigkeitsbefürworter in Katalonien und Flandern immer noch stärker werden.

Vorbild Südtirol

Auch die EU muss sich überlegen, wie sie sich zu den Wünschen einiger Regionen verhalten will, mehr Staat zu machen. Soll sie solche neue Staaten aufnehmen? Der Europaexperte von Ondarza sagt, Voraussetzung müsse sein, dass die Abtrennung einvernehmlich erfolgte. Sei dies der Fall, stehe einer EU-Mitgliedschaft prinzipiell nichts im Wege. Allerdings müsse der Neustaat einen Aufnahmeantrag stellen, die politischen (Demokratie) und wirtschaftlichen (Wettbewerbsfähigkeit) Beitrittsbedingungen erfüllen und die Zustimmung aller EU-Staaten bekommen.

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Kurzfristig würden solche neuen Mitgliedstaaten die EU vor einige Probleme stellen und von anderen Aufgaben ablenken, glaubt von Ondarza. Zudem könne eine Abspaltung und Aufnahme Schottlands zu Schwierigkeiten bei den Neuverhandlungen der EU mit Großbritannien führen, die Premier Cameron anstrebt. Langfristig werde die Arbeit der Europäischen Union aber wohl kaum beeinträchtigt, falls Schotten, Katalanen oder Flamen als eigene Länder hinzukommen sollten. Denn schon bisher seien es meist nur große Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, die die EU durch Vetos blockierten.

Noch ist nicht sicher, dass in Westeuropa jetzt tatsächlich neue Staaten entstehen. Die Regierungen könnten versuchen, abwanderungswillige Regionen durch mehr Autonomierechte im Land zu halten. Als Vorbild gilt da die weit reichende Selbstverwaltung, die Südtirol seit 1972 in Italien genießt. Sie hat die überwiegend deutschsprachige Provinz an Eisack und Etsch lange befriedet. Doch immer dann, wenn Politiker in Rom am Autonomiepaket rütteln, wird in Bozen wieder der Ruf nach Unabhängigkeit lauter.

© SZ vom 17.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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