UN-Generalsekretär:Gebt Flüchtlingen die Chance, etwas zurückzugeben

Ban Ki Moon

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York

(Foto: dpa)

Flüchtlinge suchen heute, was Millionen Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg suchten: Sicherheit und eine Zukunft für ihre Familie. Wer ihr Leid instrumentalisiert, verrät die Werte der EU.

Gastbeitrag von Ban Ki Moon

"Wir wollen nicht in einer Welt mit Kriegen aufwachsen. Sogar diejenigen, die 'gewinnen', werden am Ende leiden." Diese Sätze - klarer und deutlicher - als ich sie jemals in meinen Gesprächen mit Politikern gehört habe, kamen von einer viel maßgeblicheren Quelle: Kindern, die Konflikte, Armut und sogar die kriminellen Machenschaften von Schlepperbanden überstanden hatten.

Ihre Worte waren Teil eines Gedichts, das mir Kinder in der Gemeinde des Sant'Egidio-Tenda-di-Abramo-Zentrums in Rom überreicht hatten - eine der vielen Flüchtlingsunterkünfte, die ich in den vergangenen Wochen in Europa besucht habe, um Solidarität zu zeigen.

Die Familien, die ich dort gesehen habe, haben ihr Zuhause verloren. Als ich mit einer kleinen Gruppe von Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika zusammensaß, hörte ich aufmerksam zu. Ein kleiner Junge erregte meine Aufmerksamkeit. "Wie alt bist du?", fragte ich. "Sechs", antwortete er stolz.

Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich so alt war. Damals musste ich während des Koreakriegs fliehen. Obwohl ich nie so weit reisen musste wie er und nicht so viele Opfer wie er erbringen musste, wusste ich nur zu gut, wie es ist, wenn das eigene Dorf bombardiert wird und man es verlassen muss.

Ich werde nie vergessen, wie mein Großvater in den Bergen, in denen wir uns verstecken mussten, panisch nach etwas zu Essen für uns suchte. Ich war zu jung, um Begriffe wie "kollektive Sicherheit" zu verstehen. Aber als ich multinationale Truppen unter der Flagge der Vereinten Nationen sah, wusste ich, dass wir nicht allein waren. Als die UN uns mit lebensrettenden Gütern versorgte, fühlte ich, dass ich der Welt irgendwann einmal etwas zurückgeben wollte.

Ich bin nicht besonders. Diejenigen, die ich in Tenda di Abramo getroffen habe, im Gabčíkovo-Zentrum in der Slowakei, oder einem Integrationslager in Spanien, wollen alle der Gesellschaft etwas zurückgeben. Menschen wie Alou Sanogo Badara, ein 22-jähriger Student aus Mali. Er floh vor dem Konflikt in seinem Land, lief 3000 Kilometer durch die Wüste und musste um Freunde trauern, die auf diesem Weg starben. Weitere Menschen kamen auf dem kleinen Boot um, das ihn und 100 andere über das Mittelmeer brachte. Und trotz des kulturellen Unterschieds in Italien sagt er: "Hier habe ich Liebe und Freundschaft gefunden."

"Wir sind alle Menschen"

Sediqa Rahimi, eine zweifache Mutter aus Afghanistan, sieht sich selbst als "Botschafterin des Friedens". Während ihre Söhne fröhlich spielen, erinnert sie sich an die Traumata, die sie zu Hause erlitten hat. "Wie viele Kinder müssen mit dem Lärm von Bomben und Gewehrfeuer aufwachen?" Das ist auch die erschreckende Realität für Millionen von Menschen in Syrien, die viel zu lange unter einem Krieg leiden, den die Kriegsparteien und die Staaten mit Einfluss dringend beenden müssen.

Wie Millionen Europäer und andere, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Leben neu beginnen mussten, wollen die heutigen Flüchtlinge das, was alle Menschen wollen: Sicherheit, Stabilität und eine bessere Zukunf für ihre Familien.

Ich bin tief besorgt über Politiker, die ihr Leiden ausnutzen, Fremdenfeindlichkeit schüren und Hassreden versprühen. Diese Aktionen entzweien Gemeinden, verbreiten Instabilität und verraten die Werte und die Menschenrechtsstandards, die die Europäische Union stützen. Ich fordere europäische aber auch andere Politiker auf, eine kollektive Antwort zu geben, die diese Werte reflektiert und die Würde des Menschen auf der Flucht vor Konflikten und Armut respektiert.

Das Schließen der Grenzen, die Kriminalisierung und Inhaftierung der Flüchtlinge werden keine Probleme lösen. Stattdessen sollten die Länder sichere und legale Wege für Migranten und Flüchtlinge bieten. Mehr Optionen zur Umsiedlung, bessere lokale Integration und stärkere Investitionen in unterfinanzierte Hilfsoperationen sollten bereitgestellt werden. Mit kreativem Denken können wir Chancen für mehr Migranten und Flüchtlinge schaffen. Beispiele hierfür wären Stipendien durch den privaten Sektor, humanitäre Visa und Sponsoren aus der Heimat.

Solches Mitgefühl und solche Taten sind auch ein wirksames Mittel, um die Schleuserkriminalität und deren Netzwerke zu bekämpfen, die es auf verzweifelte Menschen abgesehen haben.

Die aktuellen politischen Maßnahmen sind eindeutig nicht ausreichend. Es ist Zeit für die internationale Gemeinschaft, eine weltweite Reaktion auf die riesigen Bevölkerungsströme zu entwickeln. Ich arbeite daran, um Länder zu einem humaneren und koordinierteren Ansatz zu bringen. Ein Fortschritt würde dem gemeinsamen Interesse aller Nationen dienen.

Die Kinder, die ich im Tenda-di-Abramo-Zentrum in Rom traf, sangen, wie sie aus verschiedenen Kontinenten eingetroffen waren. Am Ende ihres Vortrags sandten sie eine Botschaft an die Welt: "Aber welchen Unterschied macht das? Wir sind alle Menschen. "

Der Autor ist Generalsekretär der Vereinten Nationen

Deutsche Übersetzung: Janina Kempf

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: