UN:Flucht nach vorn

Internationale Militärmissionen sind nur bei einer Bedrohung für den Weltfrieden und nach vorheriger Genehmigung durch den Weltsicherheitsrat erlaubt. Wie Völkerrechtler aus der Migration eine solche Gefahr ableiten.

Von Ronen Steinke

Ein drastischeres Szenario als jenes, das die EU-Außenbeauftragte neulich in New York beschrieb, kann eine Politikerin kaum entwerfen. Bedrohung des Weltfriedens, Gefahr für die internationale Sicherheit: Mit dieser Warnung trat Federica Mogherini vor den Diplomaten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf. Um der Bedrohung Herr zu werden, so lautete ihr Appell, müsse dieses höchste UN-Gremium - einst geschaffen, um über Krieg und Frieden zu richten - zum völkerrechtlich Äußersten greifen: zu einem UN-Militärmandat, das staatliche Souveränität beiseite wischt.

Bedrohung des Weltfriedens? μFast konnte man vergessen, um wen es vor allem geht: um unbewaffnete Zivilisten aus Afrika und Arabien, Jugendliche, Frauen, Schwangere, viele von ihnen kurz vor dem Verdursten, wenn sie vor Europas Küsten aus dem Mittelmeer gerettet werden, auf zusammengeklebten alten Großschlauchbooten oder rostigen Kähnen.

Ein UN-Mandat, wie es die EU sich dieser Tage erhofft, ist laut Kapitel sieben der UN-Charta nur möglich, wenn eine Gefahr für die internationale Sicherheit besteht. So steht es in Artikel 39. In diplomatischen Zirkeln ist deshalb viel davon die Rede, dass die nach Europa strebenden Elendsmigranten genau dies seien. Zwar ist es ein schleichender Prozess gewesen, inzwischen aber ist die völkerrechtliche Diskussion tatsächlich so weit gediehen, dass die UN-Charta mit ihrem eigentlich dramatisch klaren Wortlaut den EU-Plänen nicht mehr entgegenstehen dürfte.

Als Piraten Somalia destabilisierten, wurden sie als Bedrohung für alle eingestuft

Der Sicherheitsrat hat mittlerweile Piraterie, Drogen- und Waffenhandel als Bedrohungen für den Weltfrieden eingestuft. 2013 kamen Wilderei und der Schmuggel von Elfenbein hinzu. Schon vor mehr als 20 Jahren wurden Migrationsbewegungen als "Bedrohung der internationalen Sicherheit" interpretiert, welche ein militärisches Eingreifen rechtfertige. Damals protestierten bereits kleinere Länder, die im UN-Sicherheitsrat mit wenig Einfluss ausgestattet sind. 1991/92 war das, es ging um den Irak und Somalia. Der UN-Sicherheitsrat prägte eine Argumentation, auf die jetzt auch die EU setzen könnte: Nicht die Flüchtlinge selbst sind die Gefahr für den Weltfrieden. Vielmehr das Chaos, das ihre Ankunft auslöst. Eine ähnliche Logik wandte der Rat zuletzt 2008 mit Blick auf die Piraten vor der Küste Somalias an. Sie selbst bedrohten nicht den Weltfrieden. Aber sie könnten Somalia weiter destabilisieren und indirekt so auch die Welt.

Die ursprüngliche Idee der UN-Charta, militärische Interventionen nur in sehr eng gefassten Ausnahmefällen zu erlauben, ist im Zuge dieser vielen Debatten schon deutlich verblasst und die Auslegung sehr viel flexibler geworden. "Bedrohung des Weltfriedens" - die Konturen dieses völkerrechtlichen Begriffs seien völlig "aufgeweicht", klagt der in Hamburg lehrende Völkerrechtler Stefan Oeter. Grenzüberschreitende Migrationsbewegungen würden fast schon automatisch als Friedensbedrohung deklariert. Die im UN-Sicherheitsrat vertretenen Mächte trieben diese Entwicklung mit Verve voran. So gewönnen sie mehr Bewegungsspielraum, militärisches Eingreifen in ihrem Sinne zu sanktionieren. "Für den Rest der Welt aber bedeutet es zunehmende Rechtsunsicherheit."

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