Umstrittenes Supreme-Court-Urteil:Fünf ältere Herren gegen das liberale Amerika

Obamacare Contraceptive Rule To Be Decided On By Supreme Court

"My health, my faith, my decision": Frauen protestieren vor dem Supreme Court in Washington gegen die Einschränkung der Krankenversicherung.

(Foto: Bloomberg)

Die konservative, männliche Mehrheit am Obersten Gerichtshof wertet die Religion in der US-Gesellschaft weiter auf. Dabei zeigt sie wenig Interesse an Frauenrechten. Nicht nur Feministinnen beobachten das mit Argwohn.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Justitia ist blind und ein Gericht hat kein Geschlecht. So weit die Theorie. Doch die Praxis ist auch in Demokratien komplizierter: Der Altersdurchschnitt am Obersten Gerichtshof der USA liegt bei 68 Jahren, sechs der neun Richter sind Männer.

Normalerweise diskutiert Amerika über die politische Gesinnung seiner Richter (derzeit: fünf konservativ, vier liberal), doch nun rücken auch Alter und Geschlecht in den Mittelpunkt. Am Montag urteilte der Supreme Court, dass von Arbeitgebern bezahlte Krankenversicherungen die Ausgaben für Verhütungsmittel nicht übernehmen müssen, wenn die Firmenbesitzer dies aus religiösen Gründen ablehnen. Das Urteil gilt als Einschränkung von Obamacare, der Gesundheitsreform des US-Präsidenten.

Damit können erstmals Unternehmer das Recht auf Religionsfreiheit in Anspruch nehmen, wie es in einem Gesetz von 1993 definiert wurde - und damit Mitarbeiterinnen über die Krankenversicherung Mittel wie die "Pille danach" verwehren. Deren Einsatz betrachten die klagenden Firmen, darunter die Baumarkt-Kette "Hobby Lobby", deren Eigentümer gläubige Christen sind, als eine Form der Abtreibung.

Dürfen Scientologen nun Antidepressiva streichen?

Liberale, Frauenrechtler und die US-Regierung zeigen sich bestürzt. "Zum ersten Mal hat das Gericht Chefs das Recht gegeben, ihre religiösen Überzeugungen über die gesundheitlichen Bedürfnisse ihrer Angestellten zu stellen", klagt die NGO National Women's Law Center. Ein Obama-Sprecher erklärte, das Urteil setze "die Gesundheit der Frauen aufs Spiel, die für diese Unternehmen arbeiten." Die Partei der Demokraten schrieb in einer Pressemitteilung von einem "Weckruf".

Die konservative Mehrheit im Supreme Court besteht aus fünf Männern, die als katholisch und gläubig gelten. Sie alle stimmten für das Urteil. Die drei Frauen im Supreme Court vertraten eine wiederum eine andere Meinung, die Begründung von Richterin Ruth Bader Ginsburg klingt fast verzweifelt: "Legionen von Frauen, die nicht den Glauben ihrer Arbeitgeber teilen, wird der Zugang zu Verhütungsmitteln verwehrt", heißt es dort. Ginsburg stellt die Frage, ob nun beispielsweise Zeugen Jehovas Mitarbeitern gemäß ihrer Religion Bluttransfusionen verwehren oder Scientologen Antidepressiva aus den Versicherungsleistungen streichen könnten.

Die zentrale Aufgabe von höchsten Gerichten besteht darin, offene oder unklare Rechtsfragen anhand von Gesetzeslage und Verfassung zu entscheiden, dabei aber nicht gesellschaftliche Realitäten aus dem Blick zu verlieren.

Genau eine solche gesellschaftliche Blindheit ist der Vorwurf, dem sich nun die fünf konservativen Richter des Supreme Courts ausgesetzt sehen: Während die Republikaner den "Sieg für die Religionsfreiheit" feiern, sieht die Gegenseite die Rückkehr eines Menschenbildes, das eben jener Religionsfreiheit das Recht der Frau auf Selbstbestimmung unterordnet. Einer Religionsfreiheit, wohlgemerkt, die das Gericht neben Menschen nun auch bestimmten Unternehmen einräumt.

Lebenswichtige Behandlungen - eine ganz andere Sache

Haben wir es also mit einem Geschlechterkampf im Supreme Court zu tun, in dem ältere Herren ihre strukturelle Macht ausnutzen? Viele Rechtsexperten halten die Argumentation der Richter-Mehrheit für legitim: So erlauben die Obama-Gesundheitsgesetze bereits Ausnahmereglungen für religiöse gemeinnützige Organisationen, wie sie das Gericht nun auch für Privatunternehmen vorsieht.

Deren Mitarbeiter erhalten zwar Zugang zu bestimmten Verhütungsmitteln, aber der Arbeitgeber muss dafür keinen Kostenanteil übernehmen. Eine ähnliche Regelung wäre auch für Unternehmen möglich - allerdings angesichts der verkorksten Lage im Kongress unwahrscheinlich.

Richter Samuel Alito betonte in seiner Begründung auch, dass es sich um eine sehr begrenzte Entscheidung handele, die nicht einfach auf lebenswichtige Maßnahmen wie Bluttransfusionen übertragbar sei. So heißt es in den Stellungnahmen, dass das Urteil keine Hintertür für Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft oder sexueller Orientierung bieten soll.

Allerdings befürchten Aktivisten, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis weitere Unternehmen mit einem kleinen Kreis von Anteilseignern (zu denen theoretisch bis zu 90 Prozent aller US-Firmen gehören) unter Berufung auf das Gesetz versuchen, unter dem Vorwand der Religion bestimmte Leistungen zu streichen. Doch wie realistisch ist ein Szenario, dass ein Unternehmen wie Walmart plötzlich aus "religiösen Gründen" bei der Gesundheitsversorgung seiner Mitarbeiter spart und damit vor Gericht durchkommt?

Das Wort "Frau" kommt nur selten vor

In der Praxis dürften die Auswirkungen auf US-Arbeitnehmer also gering sein. Was jedoch hängen bleibt, ist eine Aufwertung der Religion im beruflichen Kontext, die auch in künftigen Urteilen eine Rolle spielen könnte. Und der Eindruck, dass die fünf konservativen Richter deutlich andere gesellschaftliche Prioritäten haben, als sie viele Amerikanierinnen im 21. Jahrhundert erwarten dürften.

In der 49-seitigen Begründung der Mehrheitsmeinung geht es vor allem um Religion, Unternehmen und generelle Arbeitnehmerrechte. Nur 13 Mal, so hat die Washington Post nachgezählt, kommt das Wort "Frau" überhaupt vor - obwohl explizit von Frauen verwendete Verhütungsmittel zur Debatte standen.

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