Umstrittene deutsche Flüchtlingspolitik:Abschiebung per Express

Keine Zeit für Telefonate, keine Zeit für den Abschied von Freunden: Asylbewerber erfahren oft nur wenige Stunden vor ihrer Abschiebung von der Zwangsreise - zu spät, um dagegen zu klagen. Grund ist eine fragwürdige Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

Roland Preuß

Die Beamten klopften um 6.15 Uhr und hatten es sehr eilig. Yaser Al Nabahin, seine Frau und die vier Kinder sollten schnell das Nötigste packen, um acht Uhr müsse man am Flughafen sein. Keine Zeit für Telefonate, keine Zeit für den Abschied von Freunden in der Asylunterkunft im oberbayerischen Denkendorf. Wenig später spurtete die Familie in zwei Polizeiwagen den Münchner Terminals entgegen, ihr Flug sollte Donnerstag vergangener Woche um 11.20 Uhr abheben - nach Mailand.

Der Weg der syrischen Familie Al Nabahin ist Routine in Deutschland: Wer über andere europäische Staaten wie Italien nach Deutschland einreist, der muss für sein Asylverfahren in das EU-Land zurück, das er zuerst betreten hat. So sieht es EU-Recht vor, das sogenannte Dublinverfahren. Doch selbst deutsche Richter rütteln an diesem System und stoppen mehr und mehr Abschiebungen, insbesondere nach Italien.

Sie folgen damit Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die fordern, die Lage der Asylsuchenden in dem jeweiligen Land zu prüfen. Der EGMR verhinderte im Herbst eine Abschiebung nach Italien, weil er die Lage des Flüchtlings dort für unzumutbar hielt. Viele landen auf der Straße, denn es gibt keine Sozialhilfe wie in Deutschland.

Diese höchstrichterlichen Urteile laufen jedoch in Deutschland ins Leere - wegen einer fragwürdigen Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. In dem Standard-Bescheid für Dublinverfahren, den die Behörde auch bei Al Nabahin verwendete, werden die Ausländerbehörden gebeten, die Asylsuchenden und deren Rechtsanwalt "erst am Überstellungstag", also am Tag der Abschiebung selbst, über ihr Schicksal zu informieren. Dann ist es fast immer zu spät, um gegen die Entscheidung zu klagen. Und wer erst einmal abgeschoben ist, der bleibt für Rechtsanwälte und Richter meist unerreichbar.

"Vorgehen nach wie vor üblich"

Familie Al Nabahin entkam nur durch einen Zufall der Zwangsreise in den Süden. Ihre Anwältin, die Münchner Ausländerrechtlerin Angelika Lex, hatte am Tag zuvor deren Asylakten erhalten und darin am Abend die anstehende Abschiebung entdeckt. Am nächsten Morgen schickte sie einen Eilantrag, das Verwaltungsgericht München stoppte daraufhin die Abschiebung - zwei Stunden vor dem Abflug.

"Dieses Vorgehen ist nach wie vor üblich, obwohl dies bereits viele Gerichte moniert haben", sagt Rechtsanwältin Lex, die auch Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof ist. "Das halte ich für verfassungswidrig", sagt Lex, weil damit die Entscheidung der Behörde faktisch nicht mehr vor Gericht überprüft werden könne. Die Behörden hätten nicht einmal geklärt, ob der an Multipler Sklerose erkrankte Familienvater in Italien ärztlich versorgt werde.

Das sahen auch die Münchner Verwaltungsrichter so und verpflichteten das Bundesamt dazu, die Asylsuchenden erst zu informieren und frühestens eine Woche später abzuschieben. Das Bundesamt will dennoch an der Praxis festhalten. Zwar gebe es "vereinzelte Probleme" in Italiens Asylsystem, doch das Land sei nicht überlastet, die medizinische Versorgung gewährleistet, sagte ein Sprecher. Auch er räumt ein, dass die Sozialleistungen für Flüchtlinge in Italien "nicht stark ausgeprägt sind", sogar anerkannte Flüchtlinge müssten selbst eine Unterkunft finden.

Abschiebefälle wie die Al Nabahins sollen aber weiter erst am Tag des Flugs informiert werden - anderslautende Gerichtsentscheidungen hin oder her. So wolle man verhindern, dass sie vorher untertauchen, so das Amt. Ein Verwandter der Familie sagt, genau dies hätten die Al Nabahins nun aus Angst vor den Behörden überlegt.

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