Umgang mit Fukushima:Bis Wegschauen nicht mehr funktioniert

Japan's Nuclear Regulation Authority members inspects leak of sto

Mitarbeiter der Atomkraftregulierungs-behörde NRA begutachten Wassertanks, die zur Aufnahme von radioaktiv kontaminiertem Wasser aus dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi dienen.

(Foto: dpa)

In Japan ist es ein Akt der Höflichkeit. Doch das Ignorieren der Zustände im AKW Fukushima 1 ist erschreckend. Oberflächliche Dekontamination soll Dörfer der Gegend wieder bewohnbar machen und Premier Abe will einige Atomkraftwerke im Land bald wieder hochfahren.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Wegschauen ist in Japan eine Tugend. Nicht nur als Gebot der Höflichkeit, weil man andere Menschen nicht in Verlegenheit bringen soll. Sondern auch, weil man sich so selber Unangenehmes erspart. Daran halten sich die Japaner im Alltag, und auch in der Politik. Bis das Wegsehen nicht mehr funktioniert - und alle erschrecken.

Vorige Woche wurde an der Kraftwerks-Ruine Fukushima 1 ein Leck an einem Wassertank entdeckt. Die Aufsichtsbehörde schätzt, 300 Tonnen hochradioaktives Wasser seien in den Pazifik geflossen. Japan meldete nun das Leck als Störfall der Stufe drei. Das Fischereiverbot vor der Küste von Fukushima ist ausgeweitet und auf unbestimmte Zeit verlängert worden.

Die wenigen, die hingesehen haben, wie Shunichi Tanaka, der Chef der neuen Nuklearaufsicht, waren nicht überrascht: "Es ist genau das eingetreten, was wir befürchteten", sagte er. Die Medien, die Regierung und vor allem das für die Atomkraft zuständige Handels- und Industrieministerium (Meti) dagegen, das sich stets vor Tepco gestellt hat, der Stromfirma schon vor zwölf Jahren beisprang und nach der Katastrophe half, Schlampereien und Schäden zu vertuschen - sie alle schreckten auf. Hatte nicht schon der vorige Premier Yoshihiko Noda die Ruine für "kalt abgeschaltet" erklärt, also unter Kontrolle. Wenn in Japan eine Autorität etwas behauptet, dann glaubt man das, ohne genauer hinzusehen.

Journalist arbeitete verdeckt als Aufräumer

Jetzt verlangt das Meti in Alarmstimmung, Tepco müsse andere, teurere Tanks verwenden. Die Kosten soll der Steuerzahler übernehmen. Und Premier Shinzo Abe will plötzlich die Regierung in die Aufräumarbeiten einschalten. Seit der Katastrophe sind immer wieder Warnungen laut geworden, Tepco pfusche bei den Bergungsarbeiten.

Der Journalist Tomohiro Suzuki, der im Sommer 2011 verdeckt als Aufräumarbeiter in der Ruine schuftete, sagte schon damals, der Konzern verwende minderwertiges Material, um Geld zu sparen. Die Wasserleitungen zur Kühlung der Ruine und die Tanks genügten den Anforderungen nicht. Aber die Regierung und die japanischen Medien hörten weg.

Um die drei geschmolzenen Reaktoren einigermaßen unter Kontrolle zu behalten, muss Tepco sie ständig mit Wasser kühlen. Da sich die Kreisläufe im Inneren der Wracks nicht mehr voneinander trennen lassen, wird dieses Wasser radioaktiv verseucht. Zudem dringt ständig Grundwasser in die Ruine, es wird verstrahlt und muss abgepumpt werden.

So fallen täglich 400 Tonnen neu kontaminiertes Wasser an, das Tepco auf dem Kraftwerksgelände lagert. Inzwischen sind das 300.000 Tonnen. Bis 2016 muss die Kapazität auf 800.000 Tonnen erhöht werden. Bisher gibt es keine Methode, dieses Wasser zu dekontaminieren. Kleine Mengen kann man eindampfen, aber eine industrielle Methode gibt es dafür nicht. Zumal Einkochen viel zu viel Energie verbrauchen würde.

Fünf größere Lecks in Fukushima seit 2011

Seit 2011 meldete Tepco fünf größere Lecks an Wassertanks und Leitungen. Die Regierung ignorierte diese Meldungen oder spielte sie herunter.

Premier Shinzo Abe, der eng mit der Atomwirtschaft verbandelt ist, will möglichst bald einige der 48 stillgelegten, aber noch funktionsfähigen Reaktoren Japans wieder anfahren lassen. Er hält dies für einen Wirtschaftsaufschwung für unerlässlich. Einer innenpolitischen Diskussion darüber weicht er aus. Obwohl mehr als die Hälfte der Japaner eigentlich für den Ausstieg aus der Kernkraft plädieren, war das im Wahlkampf kein Thema.

Um den Anschein von Normalität herzustellen, lässt Tokio die evakuierten Dörfer um die Kraftwerksruine großflächig dekontaminieren. Gebäude und asphaltierte Straßen und Plätze werden mit Druckwasser abgespritzt, anderswo, zum Beispiel auf Sandplatz-Schulhöfen, wird die oberste Erdschicht abgetragen. Danach erklären die Behörden den Ort für saniert, die vertriebenen Bewohner sollen zurückkehren. Tun sie das nicht, erhalten sie gleichwohl keine Entschädigungen mehr. Derweil melden die Medien Vollzug, die Dörfer seien wieder bewohnbar.

Dass aber die Dekontaminierung die Strahlung oft nur geringfügig reduziert und schon der nächste Regen strahlende Partikel aus den Wäldern heranschwemmt (die Strahlung also wieder zunimmt), wollen die Regierung und das übrige Japan ungern hören. Und ebenso wenig, dass bereits 44 Kinder von Fukushima an Schilddrüsenkrebs leiden. Diese Zahl ist selbst für Wissenschaftler, die davor gewarnt hatten, überraschend hoch. Doch die Behörden tun diese Zahlen als statistisch "nicht signifikant" ab. Ein Beamter behauptete in der Presse sogar, die Kinder seien vermutlich schon vor der Reaktorkatastrophe erkrankt.

Regierungschef Abe braucht den Schein von Normalität nicht nur, um die Wiederinbetriebnahme der stillgelegten Kraftwerke durchzusetzen. Er will außerdem japanische Meiler ins Ausland verkaufen. Vietnam und die Türkei hat er als Kunden bereits gewonnen, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Tschechien, die Slowakei und Ungarn zeigen Interesse. Als Handelsreisender für Nukleartechnik besucht er dieser Tage vier Golfstaaten.

Nach dem Leck von voriger Woche - am Donnerstag wurden zwei weitere Tanks mit Schäden entdeckt - dürfte Abe nun Mühe haben, das Wiederanfahren von AKWs durchzusetzen. Dabei verblasst dieser Störfall angesichts der drohenden Probleme. Ein schweres Erdbeben könnte viele der Wassertanks leckschlagen.

Vor allem aber sammelt sich im Boden unter den durchgeschmolzenen Reaktoren hochverseuchtes Grundwasser. Wie viele zehntausend Tonnen das und wie stark sie verstrahlt sind, weiß man nicht. Die Reaktoren stehen 150 Meter vom Strand entfernt, das verseuchte Grundwasser dringt mit einer Geschwindigkeit von vier Metern pro Monat Richtung Meer. Um es zu stoppen, werde man die Erde um die Ruine einfrieren, behauptet Tepco. Damit ließ Tokio sich bisher beruhigen - und sieht lieber nicht genauer hin. Denn geschehen ist dazu noch nichts.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: