Ukrainischer Außenminister:"Die wahren Probleme stehen womöglich noch bevor"

Crisis in Ukraine - Kharkiv

In der Stadt Charkow demonstrieren Ukrainer mit ihrer Flagge für Frieden.

(Foto: dpa)

Militärisch hat Kiew den Russen kaum etwas entgegenzusetzen. Außenminister Andrej Deschtschiza macht sich vorsorglich schon mal Gedanken über den Rückzug der ukrainischen Soldaten von der Krim. Sorgen bereiten ihm aber vor allem Putins langfristige Pläne.

Ein Besuch beim Außenminister. Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Der Außenminister hat Hunger, es war ja auch ein langer Tag. Die Landung russischer Truppen im Dorf Strilkowe im ukrainischen Kernland außerhalb der Krim, ein Parlamentsbeschluss in Kiew über die Auflösung des Krim-Parlaments, Notfall-Pläne für eine russische Invasion im Osten, die Vorbereitung auf das EU-Außenministertreffen in Brüssel am Montag, das Treffen mit Gesprächspartnern der Nato im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" - was man halt so macht, als neuer Minister in einer neuen Regierung, die sich mit der größten Krise in der jüngeren Geschichte ihres Landes konfrontiert sieht.

Andrej Deschtschiza, 48, ehemaliger Top-Diplomat und OSZE-Entsandter aus der Westukraine, ausgebildet in Ost und West, international trainiert und von heiterem Gemüt, wohnt in Podol, der Unterstadt Kiews am Fluss, er kommt mit seinem kleinen Dienstwagen nach Hause, weil er als Zeichen der neuen Zeit auf den Mercedes verzichtet und einen Skoda ausgesucht hat. Seine Frau hat Wareniki, Teigtaschen, gemacht, die Deschtschiza so erschöpft wie elektrisiert gegen Mitternacht in sich hineinschaufelt. Zwar geht er neuerdings, auch das will er als Zeichen verstanden wissen, in der Ministeriumskantine Kaffee trinken wie alle anderen Mitarbeiter auch, aber fürs Essen bleibt keine Zeit.

Ein Fenster in seiner Küche geht zur Straße, und Deschtschizas Frau berichtet halb lachend, halb verzweifelt, dass in letzter Zeit häufiger Freunde unter ihrem Wohnhaus vorbeifahren um zu sehen, ob noch Licht brennt bei Herrn und Frau Minister. "Sie wollen nicht stören", sagt sie, "aber sie wollen sich vergewissern, dass wir noch da sind. Denn wenn wir noch da sind, sagen sie, dann ist noch kein Krieg, dann müssen sie ihre Kinder nicht in Sicherheit bringen."

Nun, sie sind noch da, und auch die Anrufe vom Cousin aus Sankt Petersburg, ob sie die Straßenkämpfe mit ukrainischen Faschisten in Kiew überlebt hätten, von denen das russische Fernsehen immer berichte, werden mit Gelächter quittiert: Hier gebe es keine faschistischen Horden und auch keinen Bürgerkrieg. Nur eine Regierung, die versuche, ein bankrottes und bedrohtes Land zusammenzuhalten. Galgenhumor hat sich breit gemacht in der ukrainischen Hauptstadt, und es ist auch Galgenhumor, gepaart mit durchaus kämpferischem Optimismus, den Andrej Deschtschiza ausstrahlt.

Irgendwie, irgendwann wird alles gut

Wenige Stunden vor dem Referendum will er klarmachen, dass sich sein Land nicht aufgeben wird, dass irgendwann, irgendwie alles gut wird - wenn der Westen wirklich hilft und endlich echte Sanktionen gegen Putin und seine Leute erlässt, die den Russen wehtun. Wenn die Ukrainer wirklich zusammenstehen. Und wenn man nicht auf schnelle, brutale Lösungen setzt. "Diese Konfrontation wird sehr viel länger dauern, als wir das alle wollen", sagt er, "aber zum Schluss, davon bin ich überzeugt, werden wir mit diplomatischen Mitteln eine Lösung finden." Eine wichtige Bedingung allerdings sei: Es müsse gelingen, Zusammenstöße zwischen den ethnischen Gruppen auf der Krim zu vermeiden, die das Klima langfristig vergiften könnten wie einst auf dem Balkan. Wenn das gelinge, dann sei ein Zusammenleben von Ukrainern, Russen und Tataren dort weiter möglich - und dann sei eine künftige, friedliche Lösung, ja selbst ein russischer Abzug vorstellbar.

Wie die erreicht werden soll? Deschtschiza schnauft. Die Russen reden nicht mit ihm, weil sie die neue Regierung in Kiew für illegitim erklärt haben. "Ich bin in ihren Augen ein Bandit, ein Usurpator. Sie fordern einen unabhängigen Verhandlungspartner, den wir entsenden sollen. Nun frage ich Sie: Wie kann ein Verhandler legitimiert sein, wenn wir, die ihn entsenden, in den Augen der Russen doch illegitim sind?" Eine seltsame Logik sei das, die Putin da an den Tag lege.

Geordneter Rückzug von der Krim

Auch wenn Deschtschiza ratlos die Schultern zuckt über solche legalistischen Feinheiten und sich darüber erregt, dass die russische Rhetorik und die Moskauer Legenden sowieso jeder Logik und jeder Ratio entbehrten - damit kann er sich jetzt nicht abgeben. Er fühlt sich aufgerufen, die Zukunft des Landes nach dem Referendum zu organisieren. Wie können die ukrainischen Soldaten, die noch auf der Krim sind, ohne Blutvergießen abgezogen werden? Denn dass das Referendum pro Ukraine ausgeht und die Soldaten der ukrainischen Armee in ihren Kasernen bleiben - das glaubt auch der Optimist Deschtschiza nicht. Also muss besprochen werden, dass sie friedlich abziehen dürfen. Wie kann verhindert werden, dass Provokateure im Osten die Spannungen erhöhen, dass noch mehr Menschen sterben, dass Russland womöglich - nach seiner eigenen Logik - das Recht einfordert, seine Leute in Donezk oder Charkow schützen zu müssen? Deschtschiza ist sicher, dass die Ukrainer würdevoll und besonnen reagieren werden, sich nicht provozieren lassen. So, wie sie es auch auf der Krim nicht taten. "Die Ukraine ist stark - auch ohne Aggression."

Auf die Frage allerdings, was geschehen würde, wenn Würde und Entschlossenheit nicht ausreichen, hat auch er keine Antwort. Das ukrainische Militär sei machtlos gegen die russische Armee, da müsse man sich nichts vormachen, also gelte es, die bessere Alternative, das positive Gegenmodell für jene zu sein, die mit einem Anschluss an Russland liebäugelten. "Die Ukraine hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie dynamische, aktive, moderne Menschen hat, dass sie europäische Werte leben will. Das wird es sein müssen, was wir langfristig entscheiden müssen: Wollen wir in postsowjetischer Baracken-Nostalgie verharren - oder in eine zivilisierte Partnerschaft eintreten mit der ganzen Welt?"

Der Außenminister redet sich jetzt in Rage, denn er erinnert sich an die vergangenen Monate, an die Verhandlungen mit der EU über das Assoziierungsabkommen, über den wachsenden, auch ökonomischen Druck Russlands, über das Heraufziehen einer Mega-Krise, die jeder habe sehen können, der sie haben sehen wollen. Nur: Die EU habe lange zu spät oder falsch reagiert. "Um zu verhindern, dass die Lage schlimmer wird, hätte man früher zu Sanktionen greifen müssen - anstatt immer nur damit zu drohen. So aber hat Moskau einfach weitergemacht."

Die EU habe immer gesagt, die Tür für das Abkommen sei offen, Kiew müsse nur unterschreiben. Aber als es darum gegangen sei, dem Volk, das für Europa auf die Straße ging, eine langfristige Perspektive aufzuzeigen, sei Brüssel zurückgeschreckt. Nun wundere man sich im Westen, dass erst blau-gelbe ukrainische, dann rot-schwarze nationalistische Flaggen über dem Maidan flatterten: "Die Menschen hier fühlten sich zunehmend alleingelassen."

"Ich liebe dieses Land"

Deschtschizas Tochter kommt heim, es ist spät geworden. Sie hat ein Jahr in Wien Jura studiert, aber nun ist sie zurück in Kiew, wohnt wieder bei den Eltern. "Hier bin ich zuhause", sagt sie, "ich wollte hier sein in der Krise, ich liebe dieses Land." Ihr Vater schaut dankbar und erkennbar gerührt, es sind die Sätze, die ein Außenminister von seiner Tochter erhofft, ganz klar.

Der Tag des Referendums auf der Krim ist mittlerweile angebrochen; Andrej Deschtschiza will noch an den Schreibtisch, den nächsten, schwierigen Tag planen. Seine größte Angst geht weit über den Verlust der Krim hinaus: Er halte es für möglich, sagt er, dass Russland von einem Korridor über russisches Gebiet träume, bei dem die Halbinsel nur einen kleinen Anteil darstelle - einen Korridor vom Süden Russlands über die annektierte georgische Republik Abchasien, den Südosten der Ukraine bis hinüber nach Odessa und von dort weiter nach Transnistrien, jenen von Russland faktisch annektierten Teil Moldawiens. Das meint er, wenn er von einer Konfrontation spricht, die die Ukraine noch lange beschäftigen werde. Die wahren Probleme, sagt er, "sie stehen uns womöglich noch bevor."

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