Ukrainer über Maidan-Protest:"Vereint wie nie zuvor"

Ukrainer über Maidan-Protest: Tausende Demonstranten auf dem Maidan Anfang Februar: Inzwischen ist in Kiew eine neue Regierung an der Macht, doch die Demonstranten haben Angst vor einer erneuten Enttäuschung.

Tausende Demonstranten auf dem Maidan Anfang Februar: Inzwischen ist in Kiew eine neue Regierung an der Macht, doch die Demonstranten haben Angst vor einer erneuten Enttäuschung.

(Foto: AFP)

Der ukrainische Student Orest Franchuk war von Anfang an bei den Maidan-Protesten in Kiew dabei. Welche Ängste die Menschen nach dem Machtwechsel umtreibt, wieso die Wut auf die EU groß ist und warum Russland das Land nicht spalten kann - eine Binnensicht.

Ein Gastbeitrag von Orest Franchuk

Die Studenten in Kiew gehörten zu den ersten, die im November vergangenen Jahres auf die Straße gingen. Orest Franchuk ist einer von ihnen, er ist 20 Jahre alt und studiert Jura an der National University of "Kyiv-Mohyla Academy" in Kiew. Emotional schildert er den Machtwechsel in Kiew und die Befindlichkeiten der Ukrainer aus seiner Sicht. Der Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung. Bis zur Europawahl Ende Mai werden in der Serie junge Europäer zu Wort kommen - streitbar, provokativ und vielfältig.

Die "Himmlischen Hundert", so nennen wir die ums Leben gekommenen Demonstranten. Sie sind unsere Helden, ihrem Mut ist es zu verdanken, dass das blutige Regime stürzte. Nun tragen wir für sie die Verantwortung. Wir müssen für die Ukraine einen vollständigen Neubeginn einleiten. Und wir dürfen nicht zulassen, dass die alte Opposition zu einem neuen Janukowitsch wird.

Ich habe mich von der allerersten Nacht am 21. November 2013 an auf dem Maidan aufgehalten und bin Zeuge des Aufbruchs einer Nation geworden. Die Ukraine wurde als Nation geboren, vereint wie nie zuvor. Der Maidan brachte die Menschen zusammen. Er zeigte, dass es nicht den Westen oder den Osten der Ukraine gibt, wie es westliche Medien beschreiben. Die Ukraine ist ein Ganzes. Das löst in mir ziemliche Begeisterung aus.

Die Krim-Krise stellt das Ende der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland dar. Russland hat Internationales Recht verletzt, im Speziellen Artikel 2, Ziffer 4 der UN-Charta, derzufolge kein Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Gewalt anwenden oder auch nur androhen darf, die sich gegen das Territorium oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates richtet. Russland hat sein wahres Gesicht gezeigt. Es ist kein "Bruderstaat" der Ukraine, sondern ein blutdürstiger Aggressor.

Die militärische Intervention auf der Krim einte die Ukraine sogar noch stärker als die Ereignisse auf dem Maidan. Die Menschen sind vom Patriotismus überwältigt, so etwas habe ich seit geraumer Zeit nicht gesehen. Sogar in den fernen östlichen Regionen protestieren die Menschen gegen die Intervention durch Russland. Menschen mit russischer Volkszugehörigkeit halten Plakate hoch, auf denen steht: "Ich bin russisch und ich brauche euren Schutz nicht".

Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung der Ukraine verstehen sich Berichten zufolge als Ukrainer und sind bereit, falls erforderlich, zu Schusswaffen zu greifen, um die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine zu verteidigen. Überall in der Ukraine melden sich Männer in großer Anzahl bei Militärdienststellen als Freiwillige, um in die Armee einzutreten, falls die Intervention eskaliert. Die übrige Bevölkerung ist bereit, zur Finanzierung der Armee höhere Steuern zu zahlen. Russlands Versuch der Spaltung des Landes ist fehlgeschlagen.

Viele Ängste bleiben

Russland muss das Land verlassen. Es wird diesen Krieg nicht gewinnen. Nach meiner Auffassung wird die Ukraine künftig wahrscheinlich kein blockfreier Staat mehr sein. Ich höre Reden über den eventuellen künftigen Beitritt der Ukraine zur Nato. Die neue Regierung hat den Prozess, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu schließen, wieder aufgenommen. Die Ukraine wird nach dem Ende der Krise ein anderes Land sein wird.

Doch es bleiben viele Ängste. Die Ängste betreffen die bekannten Gesichter in der Politik, die immer dieselben bleiben und sich in Parlament und Regierung abwechseln. Die Oligarchen sind und bleiben an der Macht. Die Menschen befürchten, dass hinter den Kulissen ein neues großes Spiel gespielt wird, während sie weiterhin auf dem Maidan stehen. Und diese Ängste könnten sehr wahrscheinlich Wirklichkeit werden, wie in letzter Zeit von vielen ukrainischen Journalisten berichtet wird.

Die "Sünden" der alten Opposition sind nicht vergessen und davor haben die Menschen Angst. Deshalb besteht die vorrangige Forderung des Maidan in einer umfassenden Lustration, die Opposition eingeschlossen. Die Ukraine braucht neue Gesichter an der Macht, Menschen, die nicht durch Korruptionssysteme oder als Verbündete von Janukowitsch befleckt sind.

Was die größte Angst ist

Doch diese Menschen müssen Experten sein. Motivation reicht nicht aus, um die Ukraine vor dem Untergang zu bewahren. Allerdings ist Professionalität bei der vorgeschlagenen neuen Regierung anscheinend nicht gegeben. Die Demonstranten des Maidan fürchten ein bestimmtes Szenarium: Sollte die neue Regierung, der auch einige Aktivisten vom Maidan angehören, aufgrund des Mangels an Professionalität versagen, könnte dies den Routiniers den Weg ebnen. Der Gedanke an diese Routiniers jagt mir Angst ein.

Das Misstrauen der Demonstranten wird ferner durch die Tatsache geschürt, dass viele Parlamentsabgeordnete der Partei der Regionen, die von Janukowitsch geführt wurde, nun offen die neue Macht unterstützen. Die Menschen spekulieren darüber, dass wahrscheinlich ein Geschäft mit der alten Opposition abgeschlossen wurde. Verdächtig scheint, dass sie keine Angst haben.

Unsere größte Angst besteht derzeit darin, dass sich nichts ändern wird - diese Enttäuschung haben wir nach der Orangenen Revolution im Jahr 2004 erlebt.

Ich möchte die Gründe für mein Misstrauen darlegen: Als ich geboren wurde, war die Ukraine bereits unabhängig, doch nach meinen Erinnerungen war die Lage schwierig. Als ich ein Kind war, klagten meine Eltern über all die Ungerechtigkeit und Korruption und über die Bürokratie, die sie über sich ergehen lassen mussten.

Ich war jung und naiv und dachte, dass nicht alles schlecht sein könne und dass es absolut möglich sei, Korruption und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Ich hatte Unrecht. Als ich im Gymnasium war, begann ich, alles aus erster Hand mitzuerleben. Alle nahmen Bestechungsgelder an: Lehrer, Ärzte und die Polizei. Die Korruption war so tief verwurzelt, dass mir der Gedanke kam, man könne vielleicht doch nichts dagegen tun. Dann ging ich an die juristische Fakultät und war nach wie vor ein eher naiver Romantiker. Ich dachte, jetzt würde sich alles ändern.

In den Seminaren wurden wir über Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und die Rechte und Freiheiten der Menschen unterrichtet. Das war reine Theorie. Als ich während der Semesterferien eine Stelle als Assistent eines Anwalts übernahm, änderte sich meine Sichtweise tiefgreifend. Ich ging zu Gerichtsverhandlungen und führte Gespräche mit Polizei und Staatsanwälten. Dort erlebte ich, wovon meine Eltern zehn Jahre vorher gesprochen hatten. Nichts hatte sich geändert: Missachtung von Menschenrechten, totale Korruption, Ungerechtigkeit und Bürokratie waren tief im System verankert. Die Wohnungen von Janukowitsch und des früheren Generalstaatsanwalts Pshonka haben kürzlich weitere Beweise dafür geliefert - alles ist buchstäblich mit Gold überzogen.

Wut und Verachtung für die EU

Ich habe mich den Protesten angeschlossen, weil ich mich immer als Europäer gefühlt habe. Am allerersten Tag waren wir nicht besonders viele, hauptsächlich Studenten wie ich, deren Zukunft gefährdet war. Wir gingen in der Tat wegen des fehlgeschlagenen Assoziierungsabkommens mit der EU auf die Straße, obwohl einige der Demonstranten sogar dagegen waren. Doch während der drei Monate auf dem Maidan hörte Europa auf, das Ziel zu sein. Die Flaggen änderten sich von denen der EU in blaue-gelbe Flaggen.

Die Menschen riefen "Rücktritt" und "Verantwortung". Die Ukrainer stellten sich dem Regime vereint entgegen. Und es handelte sich nicht um die Ultrarechten oder Extremisten, wie einige Medien es darstellten. Das waren normale Menschen, die meisten mit guter Bildung. Viele meiner Professoren und Kommilitonen waren darunter.

Nachdem das blutige Regime nun gestürzt ist, sind die Menschen von der Untätigkeit der EU während der Proteste maßlos enttäuscht. Während Demonstranten kaltblütig ermordet wurden, äußerte die EU lediglich "tiefe Betroffenheit". Wo waren die fundamentalen Werte der EU: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte?

Die Menschen fühlen sich von der EU betrogen. Sie empfinden Wut und Verachtung für die EU. Doch trotz dieser Gefühle fühlen sie sich nach wie vor inspiriert und bereit dazu, sich intensiv für europäische Werte einzusetzen. Wir werden unsere sowjetische Vergangenheit ablegen: Hunderte Lenins sind gefallen. Die Menschen verstehen sich nicht als "slawische Brüder" Russlands. Sie fühlen sich als Europäer.

Nach 23 Jahren Unabhängigkeit hat die Ukraine endlich die Chance auf eine neue Zukunft. Doch es muss noch viel dafür getan werden.

Übersetzung: Martina Stosch

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