Ukraine-Krise:An der Grenze zur Panik

Deaths mount in Ukraine's Donetsk amid threat of Russia incursion

Zerstörungen im Zentrum von Donezk

(Foto: dpa)

Zwischen der Kiewer Regierung und den prorussischen Separatisten tobt ein Propagandakrieg. Jeder will den jetzt vereinbarten Hilfskonvoi angeregt haben. Ukrainische Medien warnen vor einem Einmarsch Russlands.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Am Abend ist die Verwirrung in Kiew perfekt. Russland verkündet die Entsendung eines Hilfskonvois in die Ostukraine und damit eben jenen Schritt, vor dem der Westen in den vergangenen Tagen Dutzende Male gewarnt hatte. Aber mit wem ist das abgesprochen, wusste der Präsident davon?

Petro Poroschenko hatte am Nachmittag, nachdem die ersten Meldungen aus Moskau eintrudelten, in denen der Kreml Hilfslieferungen unter dem Dach des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz verkündet hatte, zwei Presseerklärungen herausgegeben: Er habe mit dem EU-Kommissionspräsidenten und mit dem amerikanischen Präsidenten über die humanitäre Katastrophe in der Ostukraine gesprochen und erneut darauf hingewiesen, dass Kiew offen und bereit für Hilfslieferungen sei - in Absprache mit den westlichen Partnern, durchgeführt vom Roten Kreuz. Von einer russischen Initiative, der er zugestimmt habe: kein Wort.

Widersprüche über Region Donezk

Später dann, als der russische Außenminister sich in Moskau vor die Presse stellt und davon spricht, dass man mit Kiew handelseinig geworden sei, herrscht dort immer noch Entsetzen. Ein Gesprächspartner im Außenministerium beteuert, man habe von diesem Vorstoß nichts gewusst und er vermute auch, dass der Präsident überrascht gewesen sei. Später teilt das ukrainische Außenministerium auf seiner Webseite offiziell mit, man betrachte die russische Erklärung als "zynisch" und finde es seltsam, dass eine Regierung, die eine humanitäre Katastrophe anrichte und die Infrastruktur einer Region zerstöre, sich hinterher mit Menschlichkeit brüste. Gemeint ist: Moskau. Immerhin bestätigte das Rote Kreuz am späten Abend, sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine über Hilfsgüter gesprochen zu haben.

Die Details müssten noch bestimmt werden. Schon den ganzen Tag über hatte es einen Propagandakrieg zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee gegeben.

Der Pressedienst der Donezker Volksrepublik nahm es ganz genau. Auf V-Kontakte, dem russischen Pendant zu Facebook und einem der wichtigsten verbliebenen Kommunikationskanäle der prorussischen Kämpfer, wurden kleinere Verluste aufgelistet: Nach massivem Beschuss durch die "ukrainischen Okkupanten" seien am Montag die Privathäuser Nummer 21 und 73/1 in der Buslajewa-Straße beschädigt worden, das Geschäft "Amstor" in der Dobrowolsker Straße Nummer 4 sowie Garagen und Autos entlang der Süddonezker Straße und in der Kooperative Topas-2. Das klingt harmlos, fast schon beruhigend.

Alles im Griff, bloße Sachschäden, wir gehen nicht unter, sollte das heißen - wären da nicht ganz andere Meldungen: Aus einem beschossenen Gefängnis hätten mehr als hundert Häftlinge fliehen können. Und: Freiwillige seien zusammengetrommelt worden zum Sturm auf den Stadtteil Ilowaiska, der seit Tagen heftig umkämpft ist zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee. Was die dort anrichtete, heißt es auf der Seite, sei eine "Schande", das Wort "Todeszone" fällt .

Angeblich 40 000 russische Soldaten an der Grenze

Die Wahrheit hängt bekanntlich davon ab, auf welcher Seite man sich befindet. Glaubt man dem Sprecher der "Antiterror-Operation" in Kiew, steht ein Ende im Kampf um Donezk und Lugansk unmittelbar bevor, und die ukrainische Armee wird siegreich sein. Andrij Lysenko vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, der im Dauereinsatz vor der internationalen Presse die Kiewer Sicht der Dinge referiert, erklärte, dass ganze "Rebellen-Einheiten" auf der Flucht seien. Panik breche unter den "russischen Söldnern" aus, weil die ukrainischen Kräfte gleichzeitig in vier Richtungen vorstießen und dem Gegner die größten Verluste seit Langem zugefügt hätten. Die "Terroristen" seien desorientiert, weil ihnen eine Strategie fehle.

Der Ring um Donezk sei fast geschlossen, wer aufgeben wolle, solle sich mit weißen Fahnen und erhobenen Händen ergeben und nicht "nur leere Worte über einen Waffenstillstand" produzieren. Zwar sei die Lage weiter dramatisch, zwar unterstütze Moskau die Separatisten weiterhin mit schweren Waffen, so Lysenko, sogar Landminen würden verlegt, um den Vormarsch aufzuhalten. Aber die eigenen Truppen seien hoch motiviert. Trotz der Trauer um 568 Soldaten, die mittlerweile im Kampf gegen die Invasoren gefallen seien.

Lysenko spricht regelmäßig in einem Mediencenter im Kiewer Hotel Ukraina vor einer großen, blau-gelben Karte der umkämpften Region, auf der Truppenbewegungen, die Schwerpunkte der Kämpfe und der Standort russischer Panzer eingezeichnet sind. Die Grenze zu Russland wird durch eine dicke rote Linie markiert, die, wüsste man es nicht besser, eine Abschottung der Ostukraine von russischem Einfluss suggeriert. Gleichzeitig aber warnt Kiew im Stundentakt vor einer bevorstehenden, als "humanitäre Intervention" kaschierten Invasion durch Moskau.

Ukrainische Medien an der Grenze zur Panikmache

Vor allem ukrainische Medien warnen unterdessen vehement und bisweilen an der Grenze zur Panikmache vor einer klassischen, nicht mal als humanitär getarnten Intervention durch Moskau. Der Truppenaufmarsch an der Grenze und die letzten Manöver hatten die Befürchtung wachsen lassen, dass Moskau angesichts der zunehmend desolaten Lage der Separatisten doch noch versuchen werde, das Blatt zu wenden.

Etwa 40 000 russische Soldaten sollen sich an der Grenze aufhalten. Präsident Poroschenko spricht davon, dass ein erster Versuch, auf ukrainisches Gebiet vorzudringen, verhindert worden sei. Gesprächspartner in Kiew allerdings, die nicht namentlich zitiert werden wollen, halten derartige Sorgen im Wesentlichen für Psychologie und Taktik: In Donezk sei, so sagen sie, für Moskau nichts mehr zu holen, russische Agenten und Geheimdienstler hätten sich bereits auf den Weg nach Hause gemacht und das Feld den prorussischen Kräften mit ukrainischem Pass überlassen, auf dass diese die drohende Niederlage kassierten. Die Ratten, sagt ein Diplomat, verließen bekanntlich immer als Erste das sinkende Schiff.

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