TV-Debatte zur Europawahl:Die Kleinen dominieren

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Der Linke Alexis Tsipras, die Grüne Ska Keller, der Liberale Guy Verhofstadt sowie SPD-Mann Martin Schulz debattierten vor der Europawahl in Brüssel. Nicht im Bild: der konservative Jean-Claude Juncker.

(Foto: AFP)

Außenseiter nutzen ihre Chance: Während die Grüne Keller in der TV-Debatte für frischen Wind sorgt und der Linke Tsipras gegen die Troika wettert, bleibt Martin Schulz präsidial. Der Konservative Juncker wirkt, als würde er am liebsten 90 Minuten schweigen. Die Leistungen der Kandidaten im Überblick.

Von Daniel Brössler, Javier Cáceres und Cerstin Gammelin, Brüssel

Als am Donnerstagabend wieder die Eurovisions-Hymne ertönte und das Sternenbanner auf dem Bildschirm zu sehen war, kam es anders als am Samstag zuvor. Da verfolgten etwa 180 Millionen begeisterte Zuschauer aus ganz Europa den Song Contest und den Sieg der strahlenden Kunstfigur Conchita Wurst.

Nun sahen die Zuschauer nach der Hymne fünf Politiker hinter blauen Pulten auf einer Bühne. Vier Männer und eine Frau, die von ihren Parteienfamilien als Spitzenkandidaten in die Europawahl geschickt wurden und die für die meisten Bürger wohl auch irgendwie Kunstfiguren sind.

Sie wurden aus dem fernen Brüsseler Kosmos in die heimischen Wohnzimmer geschickt, um Europa zu erklären: rechts außen der Liberale Guy Verhofstadt, neben ihm der Konservative Jean-Claude Juncker, der Sozialdemokrat Martin Schulz, die Grüne Ska Keller und links außen der Linke Alexis Tsipras.

Alle fünf treten offiziell an, um sich im Falle eines Wahlsieges ihrer Parteifamilien um das Amt des Präsidenten der nächsten Europäischen Kommission zu bewerben. Nach 90 Minuten blieben vor allem zwei Eindrücke haften. Jeder der Kandidaten hatte vor allem zu seiner Klientel gesprochen, um deren Stimmen geworben, mit vielen Versprechen - so wie das von nationalen Wahlkämpfen hinreichend bekannt ist. Es wurde weggelassen, geschönt und ein wenig gelogen.

Und ausgerechnet die drei Kandidaten der kleineren Parteien, die so gut wie keine Chancen haben, ab Herbst die nächste Europäische Kommission zu führen, punkteten in der Gunst der Zuhörer. Anders Jean-Claude Juncker: Ihm schien es überhaupt leid, reden zu müssen.

Er nutzte weder die knappen Zeitbudgets aus noch zog er die "Blaue Karte", mit der zusätzliche Redezeit beansprucht werden konnte. Alle anderen Kandidaten nutzten diese Joker, um sich gegen Vorwürfe der politischen Konkurrenz zu wehren. Ausgerechnet Juncker, der Kandidat der in Umfragen knapp vorn liegenden Europäischen Volkspartei, meldete keine Ansprüche an.

Den längsten Applaus erhielt die Grüne Ska Kaller, als sie am Ende mit bebender Stimme noch auf das Drama der entführten Mädchen in Nigeria zu sprechen kam und ein Plakat in die Kameras hielt: #Bringbackourgirls.

Die Leistungen der Diskutanten im Überblick - beschrieben von den Korrespondenten des Brüsseler SZ-Büros:

Ska Keller: Beachtlicher Auftritt einer grünen Radlerin

Ska Keller kam für eine Grüne total stilecht zur Debatte: mit wehendem grünen Sakko per Fahrrad, unter dem Jubel von Sympathisanten ihrer Partei. Offenbar hatte sie es nicht sonderlich weit, auf der Bühne geriet sie nämlich sehr viel weniger ins Schwitzen als Jean-Claude Juncker. Überhaupt schlug sie sich auf der Bühne beachtlich.

Ska Keller

Ska Keller nahm für die Grünen an der Debatte teil.

(Foto: AP)

Wie schon vor wenigen Wochen bei der Vierer-Debatte der Eurovision war die junge Brandenburgerin wieder das erfrischendste Element, und den anderen Kandidaten war sie nicht bloß deshalb ebenbürtig, weil sie ein kleines Podest zugestanden bekam.

Sie wirbelte vielmehr mit bekanntem Elan, aber mit einer Idee zu viel Perfektion die Eckelemente des grünen Programms herunter: Energieeffizienz zur Minderung der Abhängigkeit von Energieimporten; Abkehr vom Primat der Austeritätspolitik, "die uns nur noch tiefer in die Krise gerissen hat", Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, Investitionen in die Green Economy, Stopp von Waffenexporten wegen der Ukrainekrise und eine andere Flüchtlingspolitik.

Die jetzige Flüchtlingspolitik, die dazu dient, die EU-Staaten abzuschotten, gehört zu dem Europa, das Keller eher nicht will, ebenso wie die Massenfestnahmen, die es bei einer friedlichen Demonstrationen in Brüssel gegen das Freihandelsabkommen mit den USA gab.

Guy Verhofstadt: Härte zeigen gegen Putin

Der frühere belgische Premier Guy Verhofstadt mit der Zottelpopperfrisur war der scharfzüngigste Diskutant des Abends. Er war auch derjenige, der am ausdauerndsten versuchte, seine Rivalen direkt anzusprechen und so etwas wie eine Debatte anzuzetteln. Meistens ging das ins Leere, was vor allem dem Format geschuldet war.

Presidency of the European Commission candidates debate

Guy Verhofstadt vertrat die Liberalen in der TV-Debatte.

(Foto: Olivier Hoslet/dp)

Verhofstadt war auch derjenige, der bei der Frage nach Sanktionen gegen Russland am Weitesten vorpreschte. Er forderte "ernsthafte" Strafen gegen das direkte Umfeld von Russlands Präsident Wladimir Putin. Seinen Rivalen warf er vor, wirtschaftspolitisch im Gestern verhaftet zu sein; er hingegen wolle eine Rückbesinnung auf Jacques Delors und dessen Ideen von einer Vertiefung des Binnenmarkts. Klingt interessant, dürfte aber vom Publikum auch eher dem Gestern zugeordnet werden.

Der 61-Jährige forderte auch ein europäisches Antidiskriminierungsgesetz, in dem die elementarsten Grundwerte der EU geschützt werden, darunter die religiöse Toleranz. Im Übrigen strahlte Verhofstadt sehr energisch den Willen aus, Kommissionschef zu werden. Andererseits sagte er auch, dass die künftige Kommission sich nicht mehr nur wie die scheidende Behörde darauf beschränken dürfe, in Berlin und Paris um Erlaubnis zu fragen, was man machen dürfe und was nicht. Die Kommission dürfe "nicht Erfüllungsgehilfe des Rats" sein. Dumm nur, dass eben dieser Rat ihn vorschlagen müsste.

Martin Schulz und Jean-Claude Juncker: Präsidial und routiniert

Es war bestimmt nicht so, dass Martin Schulz die Spielregeln nicht verstanden hätte. Nach denen verfügte jeder Teilnehmer über einen Zeitjoker, um kurz auf einen anderen Kandidaten reagieren zu können. Martin Schulz wollte aber gar nicht auf andere Kandidaten reagieren. Er wollte seine erprobten Sätze sagen. Zum Beispiel: "Die Menschen wollen nicht mehr Europa. Sie wollen ein anderes Europa." Oder: "Wir müssen in unserem europäischen Haus die Fenster und Türen öffnen." Der einfache Bürger sei es, der an die erste Stelle treten müsse.

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Die Favoriten unterhalten sich: Der Sozialdmokrat Martin Schulz im Gespräch mit dem Konservativen Jean-Claude Juncker.

(Foto: AFP)

Der Sozialdemokrat Schulz will Präsident der EU-Kommission werden, aber bis zur Wahl ist er noch Parlamentspräsident. Und so gern er auf seine einfache Herkunft verweist, das Präsidiale steckt ihm in den Knochen. Neben dem abgeklärten Juncker, dem anklagenden Tsipras, dem aufgeregten Verhofstadt und der begeisterten Keller gefiel sich Schulz als der Staatsmann, der er ja bald ganz und gar sein will.

Am Ende nutzte Schulz seinen Joker dann übrigens doch noch. Nicht gegen einen Mitbewerber, sondern ganz in eigener Sache, als er zur Moderatorin sagte: "Der nächste Präsident der Kommission steht hier. Sie sprechen gerade mit ihm."

Vermutlich hatte Jean-Claude Juncker eine Wette laufen. Eine Wette, dass er es schafft, in 90 Minuten Debatte nicht den Anflug eines Lächelns zu zeigen und nicht den leisesten Hauch von Spaß. Um es positiv zu sagen: Der Luxemburger hat jeder Versuchung widerstanden, sich den Wählern anzubiedern. "Wir können nicht mehr Geld ausgeben, als wir haben", war gleich einer von Junckers ersten Sätzen. Das ist wahr, aber die Aussage setzte den schlecht gelaunten Grundton, den der Christdemokrat die Sendung über durchhielt.

Eine Dosis Leidenschaft erlaubte sich Juncker dann allerdings doch noch. Als sich der Grieche Alexis Tsipras über mangelnde Solidarität beklagte, platzte dem früheren Ministerpräsidenten und Eurogruppen-Chef der Kragen. Tag und Nacht, "mehr nachts", habe er für die Rettung Griechenland gearbeitet - "weil ich Griechenland liebe". Was sehr ernst gemeint klang. Seine Paradedisziplin, die Ironie, konnte Juncker nicht in die erlaubten 45-Sekunden-Statements pressen. Die Wette jedenfalls hatte Juncker am Ende gewonnen. Die Debatte eher nicht.

Alexis Tsipras: Die Troika muss abgeschafft werden

Der Auftritt von Alexis Tsipras war mit Spannung erwartet worden, denn der Linke zeigte sich erstmals in der Runde der Spitzenkandidaten. Wer linkes Feuer erwartet hatte, sah sich getäuscht. Tsipras hielt sich in der Debatte zurück - vor allem die Griechen ansprechen, nur keine Fehler machen, das hatte er sich wohl vorgenommen.

Supporters of leftist main opposition Syriza party watch the party's leader Alexis Tsipras speaking during the televised debate of the five candidates for the European Commission presidency, at a party campaign kiosk in Athens

In einem Café in Athen sehen Griechen den Auftritt von Alexis Tsipras, dem Spitzenkandidaten der Linken.

(Foto: REUTERS)

Er prangerte wie gewohnt die Sparpolitik an, die sein Land in den Ruin getrieben habe. "Wir müssen von diesem schlechten Krisenmanagement wegkommen, von dieser desaströsen Schuldenparanoia." Europa müsse so soldidarisch sein wie 1953, als Deutschland ein großer Teil der Kriegsschulden erlassen wurde.

Er widersprach nicht, als ihm vorgehalten wurde, dass nicht die Euro-Länder verantwortlich seien für die desaströse Krise, sondern die griechischen Politiker selbst, die sich noch dazu von den Banken hatten bezahlen lassen. Und auch seine Partei Syriza sei davon nicht ausgenommen. Tsipras räumte die Verfehlungen ein, hielt sich aber nicht lange damit auf.

Der 39-Jährige forderte, Europa attraktiver für junge Menschen zu machen und dass die Europäer keine Sanktionen gegen Russland verhängen sollten. "Die Sprache des Kalten Krieges ist der falsche Weg, die Krise zu lösen", sagte er. Wunden könnten nicht mit Sanktionen geheilt werden, nur mit Verhandlungen, Dialogen, am besten auf Ebene der OSZE.

Am Ende erfüllte er auch noch die Erwartungen all jener Griechen, die auf das Hasswort gewartet hatten. "Wir müssen endlich die Troika abschaffen, die Troika raus aus dem Land kriegen", forderte er.

Auf die Debatte folgten für Tsipras 90 weitere Minuten Interviews, bevor er nach Mitternacht mit ein paar Vertrauten in einem Pub direkt gegenüber dem Europäischen Parlament erschien. Nun gab es endlich ein Getränk zum späten Feierabend, um auf den schönsten Sieg des Abends anzustoßen. Warum er denn unbedingt in griechischer Sprache hatte debattieren wollen, obwohl er doch sehr gut Englisch spreche, war Tsipras gerade noch gefragt worden. "Weil ich in meiner Heimatsprache sprechen wollte", sagte der Grieche, noch voll mit Adrenalin. Und schob hinterher: "So wie andere Kandidaten auch." Tatsächlich war zunächst Englisch als gemeinsame Sprache vereinbart worden, dann kündigte der Christsoziale Jean-Claude Juncker an, er wolle lieber Französisch reden. Tsipras zog nach.

Warnung an Merkel, Hollande und Co.

Kurios an der Debatte war irgendwie auch, dass die ansonsten souveräne Moderatorin des italienischen Fernsehens Monica Maggioni immer wieder betonte, dass Zuschauer alle sozialen Medien wie Twitter, Facebook oder Google+ ausgiebig nutzen: immerhin 1279 Tweets pro Minute. Aber keine einzige Frage oder Anmerkung wurde den Kandidaten tatsächlich vorgelegt.

Die Debatte war zuvor mit einer gemeinsamen Warnung geendet - sie richtete sich an die nationalen Regierungen in den 28 europäischen Ländern. Es sei "undenkbar", dass die Staats- und Regierungschefs nach den Wahlen einen anderen Kandidaten als die auf der Bühne stehenden für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlagen könnten, sagte Verhofstadt. Und wenn doch? "Dann bekommt dieser Bewerber im Europäischen Parlament keine Mehrheit. Wir werden ihn nicht wählen!"

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