Nobelpreis:Warum die vier tunesischen Verbände den Friedensnobelpreis verdient haben

TUNISIA-POLITICS-UNREST

Blumen statt Geschosse: Anders als etwa in Libyen oder Syrien blieb es in Tunesien nach dem Arabischen Frühling weitgehend friedlich. Soldaten während der Proteste in Tunis 2011.

(Foto: Martin Bureau/AFP)

Nach der Revolution taumelte Tunesien auf einen Bürgerkrieg zu. Die neuen Nobelpreisträger halfen, das zu verhindern. Doch das Erreichte ist gefährdet.

Von Paul-Anton Krüger

Als "Ermutigung an das tunesische Volk" will das Nobelpreis-Komitee die Ehrung des "Quartetts für den Nationalen Dialog" verstanden wissen. Das können die Tunesier brauchen. Der Friedensnobelpreis kommt in einer Zeit, in der sie erleben müssen, dass die Früchte der weithin friedlichen Jasmin-Revolution von 2011, dem Ausgangspunkt des Arabischen Frühlings, längst nicht gesichert sind - trotz einer modernen und für die arabische Welt vorbildlichen Verfassung, trotz erfolgreicher Präsidenten- und Parlamentswahlen. Die Anschläge von Islamisten auf das Nationalmuseum Bardo in der Hauptstadt Tunis im März und auf den Strand von Port el-Kantaoui bei Sousse Ende Juni mit Dutzenden Toten, die meisten von ihnen westliche Touristen, haben den Tunesiern das schmerzhaft in Erinnerung gerufen.

Die Feinde einer pluralistischen, demokratischen und säkularen Ordnung versuchen, die Gesellschaft zu terrorisieren, zu destabilisieren. Auch wenn sie nicht gerade medienwirksam Ausländer attackieren, kommt es immer wieder zu Angriffen von radikalen Islamisten auf die Sicherheitskräfte, etwa im Grenzgebiet zu Algerien. Noch am Donnerstag hatte ein Abgeordneter von Nidaa Tounes, der regierenden Partei von Präsident Béji Caïd Essebsi, berichtet, dass ein Anschlag auf ihn verübt worden sei. Unbekannte hatten demnach aus einem Auto heraus auf ihn geschossen.

Erst Anfang Oktober war nach drei Monaten der Ausnahmezustand wieder aufgehoben worden, den die Regierung aus Angst vor weiteren Terrorakten verhängt hatte. Inzwischen gilt ein neues Anti-Terror-Gesetz, das die Befugnisse der Sicherheitsbehörden ausweitet in einem Maße, dass sich Kritiker an die Zeiten des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali erinnert fühlen. Dessen Sicherheitsapparat diente ein solches Gesetz zur Überwachung und Unterdrückung der Opposition.

"Tunesien hatte keine andere Möglichkeit als den Dialog"

Das tunesische Volk habe "das Fundament für eine nationale Bruderschaft gelegt", das anderen Ländern als Beispiel dienen möge, heißt es in der Begründung des Nobelpreiskomitees weiter; gerade mit Blick auf das benachbarte Libyen dürften viele Tunesier diese Hoffnung teilen, denn das Chaos dort schwappt über die Grenze; die Attentäter von Tunis und Sousse wurden in libyschen Trainingslagern der Dschihadisten ausgebildet.

Diese Bruderschaft ist keine auf ideologischer Verbundenheit fußende Beziehung, sondern mehr ein pragmatisches Zweckbündnis - im Namen der Republik und zum Wohle Tunesiens. Es bringt die moderaten Islamisten der Ennahda, des von Rachid al-Ghannouchi geführten tunesischen Ablegers der Muslimbruderschaft, zusammen mit säkularen Kräften bis hin zu manchen Vertretern des alten Regimes, die sich hinter Präsident Essebsi in seiner Sammlungsbewegung Nidaa Tounes geschart haben. Essebsi wertete den Preis denn auch als Anerkennung des tunesischen Weges: "Tunesien hatte keine andere Möglichkeit als den Dialog, jenseits aller ideologischer Unterschiede."

Das Land taumelte auf einen Bürgerkrieg zu

Hervorgegangen ist diese große Koalition aus dem Nationalen Dialog, den das Quartett im Sommer 2013 als Reaktion auf die Ermordung des linken Abgeordneten Mohammed Brahmi initiiert hatte. Bereits im Februar war dessen Kollege Chokri Belaïd erschossen worden, der wie Brahmi den Islamisten kritisch gegenüberstand und sich für eine Trennung von Staat und Religion einsetzte. Hunderttausende protestierten gegen die Islamisten, Ennahda-Büros gingen in Flammen auf, ein Generalstreik lähmte das Land. Viele Tunesier gaben der aus den ersten freien Wahlen als stärkste Kraft hervorgegangenen und damals regierenden Partei eine Mitschuld an den Morden; sie habe radikale, gewaltbereite Islamisten gewähren lassen.

Tunesien taumelte damals auf einen Bürgerkrieg zu, Islamisten und Säkulare blockierten sich im Übergangsparlament gegenseitig, die Arbeit an einer neuen Verfassung kam nicht voran. Die Wirtschaftslage und die Lebensumstände der Menschen verschlechterten sich rapide. Es drohte eine politische Spaltung des Landes und die Gefahr neuer Gewalt.

In dieser Situation konstituierte sich das Quartett, maßgeblich auf Initiative des mächtigen Gewerkschaftsbundes UGTT und dessen Generalsekretär Houcine Abassi. Er versammelte zudem den tunesischen Handels- und Unternehmerverband sowie die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer und schmiedete ein Bündnis der Zivilgesellschaft. Allein die UGTT zählt 800 000 Mitglieder, bei einer Bevölkerung von elf Millionen Menschen; sie erreicht einen Organisationsgrad von etwa 20 Prozent unter den arbeitenden Tunesiern.

Damit waren sie mächtig genug, um die zerstrittenen politischen Kräfte in einen Dialog zu zwingen - und später auch in Kompromisse. Den Islamisten dürfte es zudem eine Warnung gewesen sein, dass in Ägypten das Militär zur gleichen Zeit den frei gewählten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi abgesetzt hatte. Ein Fahrplan für Verhandlungen wurde ausgearbeitet, sie begannen im Oktober.

Der Gewerkschaftschef spricht von einer "Hommage an die Märtyrer"

Den letzten Termin hatte Houcine Abassi für den 14. Dezember angesetzt; als sich abzeichnete, dass sich die Parteien nicht einigen würden, stellte er ihnen ein Ultimatum und drohte mit einem weiteren Generalstreik. Im Januar 2014 dann wurde die Verfassung verabschiedet, die das islamische Erbe Tunesiens respektiert, zugleich aber säkulare Grundsätze der Republik festschreibt. Eine aus Technokraten gebildete Übergangsregierung lenkte die Geschicke des Landes bis zu den ersten wirklichen Parlamentswahlen im Oktober 2014, in denen Ennahda nur noch zweitstärkste Kraft hinter Nidaa Tounes wurde. Deren Gründer Essebsi setzte sich in der folgenden Präsidentenwahl durch.

Houcine Abassi sagte, der Preis kröne die Anstrengungen des Quartetts "zu einer Zeit, als das Land an allen Fronten in Gefahr war". Zugleich widmete er ihn als "Hommage an die Märtyrer eines demokratischen Tunesiens". Vor allem die Jugend habe der Diktatur die Stirn geboten. Nun werde Tunesien vom Terror bedroht. Der Preis werde den Menschen Zuversicht geben, um angesichts der Gefahr Geschlossenheit zu zeigen. Mohammed Fadhel Mahfoudh, Präsident der Anwaltskammer, sagte: "Das ist eine Botschaft an die Welt, an alle Länder, an alle Menschen, die für Demokratie und Frieden arbeiten, dass alles durch Dialog gelöst werden kann."

Dialog wird es auch in Tunesien weiter brauchen. Die Anschläge haben Tourismus und Wirtschaft einbrechen lassen. Soziale Spannungen verschärfen sich, die angekündigten Wirtschaftsreformen stocken. Der Nobelpreis sei eine moralische Verpflichtung für die Tunesier, an der Lösung nationaler Probleme in den Bereichen Justiz, Soziales und Finanzen weiterzuarbeiten, hieß es bei der UGTT.

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