Tunesien:Applaus für den Gestürzten

Wirtschaftsprobleme, Proteste, Arbeitslosigkeit: Eine neue Regierung der nationalen Einheit soll Tunesien aus der schwersten Krise seit Inkraftreten der neuen Verfassung holen.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Als Tunesiens Premier Habib Essid am Samstag das Parlamentsgebäude in Tunis betrat, wusste er, dass er am Ende des Abends sein Amt los sein würde - nach gerade einmal eineinhalb Jahren. Nur drei Stimmen erhielt er, als er die Vertrauensfrage stellte; die Koalition aus vier Parteien hat ihn fallen gelassen. Dennoch erhoben sich die Abgeordneten und applaudierten ihm. Sie hatten seine Leistung hart kritisiert, aber der scheidende Regierungschef konnte dem noch etwas Gutes abgewinnen: Die Debatte in der Versammlung der Volksvertreter gereiche Tunesiens junger Demokratie zur Ehre, sagte er. Trotz der großen Probleme "haben wir keine Angst um Tunesien, das die Ressourcen hat, die Herausforderungen zu meistern".

Die moderat islamistische Ennahda ist nun stärkste Kraft im Parlament

Mindestens die politische Elite ist sich einig, auf demokratischem Weg einen Ausweg zu suchen aus der schwersten Krise, seit die als vorbildlich geltende neue Verfassung im Januar 2014 in Kraft getreten ist. Anfang des Jahres hatte sich die Unzufriedenheit vor allem über die schlechte Wirtschaftslage landesweit in den größten Protesten seit dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali 2011 entladen. In Tunis lieferte sich die Polizei Straßenschlachten mit Demonstranten, verhängte eine Ausgangssperre. Seither gab es regional immer wieder teils gewalttätige Proteste.

Nun soll nach dem Willen von Präsident Béji Caïd Essebsi eine Regierung der nationalen Einheit das Land aus der Krise führen. Er hatte dieses Idee vor einem Monat im Fernsehen lanciert und damit de facto dem Premier das Vertrauen entzogen. Binnen zehn Tagen muss dieser jetzt einen Nachfolger vorschlagen. Die Regierungsbildung könnte sich aber hinziehen, wie schon 2015 nach den Wahlen.

Die von Essebsi gegründete Sammlungsbewegung Nidaa Tounes hat sich nach Führungsstreitigkeiten gespalten; ihr früherer Generalsekretär Mohsen Marzouk hat in Machroua Tounes (Projekt Tunesien) eine neue Partei gegründet, der sich 23 Abgeordnete angeschlossen haben. Dadurch avancierte die moderat-islamistische Ennahda zur stärksten Kraft im Parlament. Sie könnte künftig eine größere Rolle spielen. Der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT, zusammen mit drei anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen für seine Schlüsselrolle beim politischen Übergangsprozess mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, begrüßte zwar Essebsis Plan für ein Kabinett der nationalen Einheit, geht bislang aber nicht auf die Einladung ein, sich daran zu beteiligen. Essebsi hatte gehofft, mit der Einbindung der Gewerkschaft Streiks und Proteste gegen die unpopulären Pläne für weitreichende Wirtschafts- und Rentenreformen sowie weitere Sparmaßnahmen abzuwenden, die internationale Geber zur Voraussetzung für Kredite gemacht haben.

Tunesien: Vor der Vertrauensfrage: Regierungschef Habib Essid im tunesischen Parlament. Wie die Sache ausgehen würde, war ihm da schon klar.

Vor der Vertrauensfrage: Regierungschef Habib Essid im tunesischen Parlament. Wie die Sache ausgehen würde, war ihm da schon klar.

(Foto: Fethi Belaid/AFP)

Die Weltbank hat Tunesien im Mai im Zuge eines Fünfjahresplans Darlehen in Höhe von umgerechnet 4,5 Milliarden Euro zugesagt, der Internationale Währungsfonds IWF bewilligte 2,57 Milliarden Euro, und die EU stellte im Juni weitere 500 Millionen Euro zu vergünstigten Konditionen bereit. Von den Reformen hat das Parlament nach langen Debatten bislang aber nur ein neues Bankengesetz gebilligt und die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt.

Die Anschläge auf das Nationalmuseum Bardo in Tunis und einen Hotelstrand bei Sousse in der ersten Jahreshälfte 2015 haben dem Tourismus schwer geschadet, mit einem Anteil von acht Prozent an der Wirtschaftsleistung eine der wichtigsten Branchen des Landes, die vielen auch weniger gut qualifizierten Menschen Arbeit bietet und harte Devisen ins Land bringt. Trotz der deutlich verbesserten Sicherheitsvorkehrungen für Hotels, Strände und Sehenswürdigkeiten ist die Zahl ausländischer Besucher laut der Regierung in der ersten Jahreshälfte 2016 erneut gefallen, um 21,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr - das war schon das schlechteste seit Jahrzehnten.

Im abgelaufenen Jahr betrugt daher das Wirtschaftswachstum nur noch mickrige 0,8 Prozent nach ebenfalls schon schwachen 2,3 Prozent im Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 15,4 Prozent, unter Jugendlichen und Hochschulabsolventen ist sie doppelt so hoch. Die Landeswährung Dinar sackte auf neue Tiefststände gegenüber dem Dollar und dem Euro, die Exporte gingen in den ersten fünf Monaten dennoch um 2,6 Prozent zurück, die ausländischen Direktinvestitionen sogar um fünf Prozent.

Seit einem weiteren Anschlag im November 2015 auf Mitglieder der Präsidentengarde in Tunis gilt der Ausnahmezustand. Im März tötete das Militär bei mehrtägigen Gefechten 50 Extremisten, die versucht hatten, die Stadt Ben Guerdane an der Grenze zu Libyen zu überrennen. Der Angriff hatte Sorgen geweckt, dass die Terrormiliz Islamischer Staat von Libyen aus versuchen könnte, in Tunesien Fuß zu fassen, war nach Einschätzung westlicher Diplomaten und Geheimdienste aber in Tunesien geplant und von Tunesiern ausgeführt worden.

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