Nach dem Putsch:Türkei läuft Gefahr, sich zu übernehmen

Demonstration in Istanbul

Die Türkei will sich aus ihrer selbstverschuldeten Isolation befreien.

(Foto: dpa)

Ankara steckt in einer misslichen Lage: Chaos im Inneren, Konflikte mit dem Westen, der Syrien-Krieg nebenan. Die türkische Politik reagiert mit verzweifeltem Pragmatismus.

Von Luisa Seeling

Amerikas Vizepräsident reist in die Türkei, und natürlich werden die Türken Joe Biden an jenen Ort führen, der wie kein anderer für die Wunden der Putschnacht steht: das von den Putschisten bombardierte Parlament in Ankara. Derart eingestimmt, wird Biden den Präsidenten und den Regierungschef treffen. Es werden schwierige Gespräche werden, nicht nur, weil es konkreten Streit gibt, etwa über den Umgang mit den Kurden. Sondern auch, weil alte Gewissheiten schwinden.

Nichts ist mehr selbstverständlich zwischen Washington und Ankara, obwohl die Türkei seit 1952 Mitglied des Nato-Bündnisses ist. Nichts ist mehr selbstverständlich zwischen Ankara und dem Westen überhaupt. Das Land erlebt einen gewaltigen außenpolitischen Umbruch. Wie ein Ölringer sucht es nach Hebeln und Griffen, während es geschwächt ist durch das Chaos im Inneren. Die Regierung will den harten Bruch vermeiden - mit den Europäern oder auch mit den USA. Vielmehr geht sie vor wie ein Jongleur: Alle Bälle sollen in der Luft bleiben, und wenn die Manöver noch so waghalsig sind.

Ankara bibbert - die Situation im eigenen Land ist gefährlich

Einer dieser Bälle ist das Verhältnis zu den USA, das sich nach dem Putsch deutlich verschlechtert hat. Die türkische Regierung wirft den Amerikanern vor, verwickelt zu sein in den Umsturzversuch vom 15. Juli; sie fordert die Auslieferung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Das Thema ist so heikel, dass Biden eine Vorhut geschickt hat, eine Delegation aus Mitarbeitern des US-Justiz- und Verteidigungsministeriums, die mögliche Kompromisse sondieren sollen.

Natürlich hat es vor allem innenpolitische Gründe, dass Ankara Spekulationen anheizt, etwa dass der Geheimdienst CIA den Putsch eingefädelt habe. Erdoğans AKP hat ihre Klientel im Blick, sie versucht, Kapital aus der antiamerikanischen Stimmung im Land zu schlagen. Aber das Ressentiment entwickelt eben auch eine außenpolitische Dynamik, es erschwert die Diplomatie. Am Ende weiß die Regierung um den irreparablen Schaden, den etwa ein Bruch mit den USA bedeuten würde. Deshalb beharrt Premier Binali Yıldırım darauf, dass die USA kein Feind, sondern ein strategischer Partner seien. Die Türkei will nicht austreten aus der Nato, sie will die Dinge in der Schwebe halten - in der Hoffnung auf größeren Nutzen.

Nicht weniger Widersprüche bietet die Syrienpolitik. Lange hat die Türkei im Bürgerkrieg islamistische Gruppen gefördert, solange sie Diktator Baschar al-Assad bekämpften. Ankara hat den IS geduldet, womöglich gar aktiv unterstützt. Inzwischen aber tragen die Dschihadisten den Terror auf türkischen Boden, zuletzt mit jenem Anschlag in Gaziantep, der mehr als 50 Menschen das Leben gekostet hat. Die Türkei hat sich deshalb dem US-geführten Kampf gegen den IS angeschlossen und stellt den Luftwaffenstützpunkt in Incirlik zur Verfügung.

Diese Partnerschaft wird indes auch immer mehr in Zweifel gezogen, weil Washington die syrischen Kurden unterstützt. Zwischen kurdischen YPG-Einheiten in Syrien und der PKK im eigenen Land besteht aus Sicht der Türkei kein Unterschied. Ein unabhängiger Kurdenstaat an der eigenen Grenze ist Ankaras Horrorszenario, das um jeden Preis verhindert werden soll. Diesem Ziel ordnet die Regierung alles andere unter, neuerdings selbst die bedingungslose Gegnerschaft zu Syriens Rumpfmachthaber Assad. Nun heißt es, Assad könne als Interimspräsident geduldet werden - letztlich das Eingeständnis, sich in Syrien verrannt zu haben.

Die Türkei will sich befreien aus den Zwängen, die sie selbst geschaffen hat

Auch die Annäherung an Russland ist der Einsicht geschuldet, dass ohne die Macht in Moskau weder die Causa Assad noch die kurdischen Ambitionen unter Kontrolle gebracht werden können. Ankara wird nicht einseitig auf Russland als Partner in Syrien setzen, dazu sind die Differenzen zu groß. Aber das Neubündnis öffnet Spielräume. So bleiben die Bälle in der Luft.

All das sieht nicht nach kühler Strategie aus, sondern nach Verzweiflungspragmatismus. Der Terror im eigenen Land, der unberechenbare Krieg in Syrien, die Neuordnung des Staatsapparats nach dem gescheiterten Putschversuch - die Situation ist gefährlich. Die Türkei will raus aus der Isolation, sie will sich befreien aus den Zwängen, die sie mit ihrer eigenen Halsstarrigkeit geschaffen hat.

Doch die Gefahr ist groß, dass sich die Regierung übernimmt. Yıldırım hat angekündigt, "aktiver" in Syrien mitmischen zu wollen. Was er darunter versteht, ist unklar. Der militärische Konflikt kann schnell eskalieren, das Zweckbündnis mit Russland kann schnell wieder kollabieren. Jonglierkunst zeigt sich auch darin, wie man die Bälle wieder auffängt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: