Türkei:Wie im Ostblock

Sie reisten als Botschafter der türkischen Kultur zu einem Festival nach Budapest. Im Ausland aber setzten sich elf Mitglieder einer Folklore-Gruppe ab.

Von Luisa Seeling

"Abschied vom Sommer" hieß das Festival, an dem Anfang November 16 Tänzer einer türkischen Folklore-Gruppe in Budapest teilnahmen. Passender wäre "Abschied von der Türkei" gewesen. Denn elf von ihnen nutzten offenbar die Gelegenheit, um sich abzusetzen. Türkische Medien berichteten jetzt über diesen besonderen Fall von Republikflucht, und seitdem ist der Spott groß, vor allem im Netz. Was für eine Schande, meint ein Twitter-Nutzer, jetzt werden Türken zu Überläufern wie früher die Ostblock-Sportler im Kalten Krieg. Ein Blogger schreibt, es sei sicher kein Zufall, dass kürzlich Fethullah Gülen, der türkische Staatsfeind Nr. 1, in Budapest gesichtet worden sei; dazu postet er ein Bild mit Figuren aus der Sechzigerjahre-Agentensatire "Mini-Max", damit auch wirklich jeder versteht, wie ernst diese Information gemeint ist.

Für die Türkei ist die Sache doppelt peinlich: Nicht nur kehren immer mehr Türken ihrem Land den Rücken, die Tänzer - allesamt junge Leute um die 20 - waren auch noch in offizieller Mission unterwegs, als Botschafter der türkischen Kultur, ausgestattet mit Dienstpässen, mit denen visafreies Einreisen in die EU möglich ist. Die Abtrünnigen hätten in Ungarn Asyl beantragt, hieß es zunächst, inzwischen aber teilten die ungarischen Behörden mit, bei ihnen sei kein Asylgesuch eingegangen. Vermutet wird, dass die Tänzer in ein anderes EU-Land weitergereist sein könnten.

Das Sportministerium und der türkische Volkstanz-Verband stellten Strafanzeige, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Untersucht werde, berichtet die Zeitung Hürriyet, ob die Entschwundenen Verbindungen zum Gülen-Netzwerk haben, nach Ansicht der Regierung die treibende Kraft hinter dem Putschversuch im vorigen Jahr. Mit großer Härte geht Ankara seither gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger und andere Gegner vor; wie viele Menschen ins Ausland geflohen sind, ist nicht bekannt; in Deutschland ist die Zahl türkischer Asylsuchender jedenfalls deutlich gestiegen. Viele macht das fassungslos, Tuna Bekleviç etwa, der vor dem Verfassungsreferendum die "Nein-Partei" gegründet hatte: "Früher baten die Bürger der Ostblockländer um Asyl in der Türkei", schreibt er. Heute sei es umgekehrt.

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