Türkei:Türkei zieht umstrittenen Gesetzentwurf zur Kinderehe zurück

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Sie könnte ihren Vater umgestimmt haben: Auch Sümeyye Erdoğan, Vizechefin der türkischen Frauenrechtsorganisation Kadem (Mitte), hatte sich gegen das Gesetz ausgesprochen. (Foto: AFP)
  • Die regierende AKP hatte vergangene Woche einen Gesetzentwurf ins türkische Parlament eingebracht, der Sexualtäter in Einzelfällen vor Strafe schützen sollte.
  • Die Partei argumentierte, sie wolle in einvernehmlich zwischen Minderjährigen geschlossenen Ehen die Männer vor Haftstrafen bewahren.
  • Frauenrechtlerinnen kritisierten den Entwurf heftig, die Regierung hat ihn nun zurückgezogen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Es gibt nur noch wenige Menschen, die Einfluss auf Erdoğans Politik in der Türkei haben. Mahnungen aus der EU zum Beispiel gingen beim Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zum "einen Ohr rein, zum anderen raus". Sagt er selbst. Sein Premier Binali Yıldırım versteht sich als Vollstrecker von Erdoğans Willen. Auf das, was die Opposition zu sagen hat, hört der Staatspräsident allenfalls, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht.

Umso bemerkenswerter ist, wie ein Gesetzentwurf zum türkischen Sexualstrafrecht die Regierung jetzt heftig ins Schlingern bringt. Und es dürfte die Stellungnahme einer Frauenorganisation sein, bei der Erdoğans Tochter Sümeyye Vize-Chefin ist, die ihm wohl am meisten zu denken gibt. Denn deren Urteil zählt für ihn. Vielleicht hat es nun sogar dazu beigetragen, dass die türkische Regierung den Gesetzentwurf zurückgezogen hat. Statt am Dienstag wie geplant in zweite Lesung zu gehen, soll er nun einem parlamentarischen Ausschuss zur Überprüfung vorgelegt werden. Das gab Premier Yıldırım am Dienstagmorgen bekannt.

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Der Entwurf sollte Sexualtäter in Einzelfällen schützen, wenn sie ihr Opfer heiraten

In einer Nacht- und Nebelaktion hatte Erdoğans alleinregierende AKP Ende vergangener Woche einen Entwurf ins Parlament eingebracht, der Sexualtäter in Einzelfällen vor Strafe schützt, wenn sie ihr minderjähriges Opfer heiraten. Der Missbrauch muss vor dem 16. November dieses Jahres stattgefunden haben, so lautet eine der Bedingungen. Und es dürfe nicht zu Drohungen oder gar Gewalt gekommen sein, eine andere. Für die Opposition stand fest, hierbei handle es sich um nichts anderes als eine Amnestie für Vergewaltiger. Die Opfer würden durch die Ehe dauerhaft in die Hände ihrer Peiniger getrieben.

Justizminister Bekir Bozdağ hatte versucht, das Gesetz zu verteidigen. Es gehe nicht um Vergewaltiger, die davon profitieren sollten. Es gehe um das Schicksal jener Partner in von Familien arrangierten Kinderehen, die nun einmal leider noch Realität in dem Land seien. Sie würden religiös gefeiert, offiziell seien sie nicht registriert. Das Mindestalter für legales Heiraten liegt bei 17 Jahren - mit Zustimmung der Eltern.

In Ausnahmen, über die das Gericht befindet, können auch mit 16 Jahren Ehen geschlossen werden. Der Partner müsse ins Gefängnis, wenn die Minderjährige schwanger werde und die Behörden davon erfahren. Das ist auch dann der Fall, wenn beide den Sex wollten. Von etwa 3000 Fällen spricht Regierungschef Yıldırım, er denkt vor allem an Jugendliche: "Sie kennen die Gesetze nicht." Die Regierung wolle verhindern, dass Kinder ohne Vater aufwachsen müssten.

Die regierungsnahe Presse ließ am Wochenende Frauen zu Wort kommen, die genau auf dieses Schicksal hinwiesen. "Ich will nicht, dass mein Mann wie ein Vergewaltiger behandelt wird", berichtet eine Mutter von drei Kindern.

Ein Zurück werde es nicht geben, nur weil die Opposition die Intention angeblich böswillig verzerre, warnte der Justizminister. Aber kurz danach schritt schon Yıldırım ein, und versprach, das Gesetz sei im Einvernehmen mit der Opposition nachzubessern. Und Bozdağ möge das Gespräch mit der Frauenorganisation von Erdoğans Tochter suchen, Kadem heißt sie.

Die ist regierungsfreundlich und höflicher im Ton als viele andere Frauengruppen nach Bekanntwerden des Gesetzentwurfes. Aber sie stellt trotzdem die gleichen Fragen: Wie stellt man den eigenen, freien Willen sicher fest, vor allem bei Minderjährigen? Und würden Betroffene nicht möglicherweise unter Druck gesetzt, nach dem Missbrauch in die Ehe einzuwilligen, nur damit der Täter seiner Strafe entgeht?

Zu Beginn ihrer Regierungszeit hatte die AKP die Frauenrechte gestärkt

In mehreren Städten wie in Istanbul und Ankara sind am Wochenende Hunderte Menschen auf die Straße gegangen, um gegen das Gesetz zu protestieren. Die Frauenrechtlerin Canan Güllü sagte, mit dem Gesetz werde ein brennendes Streichholz an die Errungenschaft der Frauenbewegung gelegt.

Tatsächlich hatte sie vor allem in der Anfangszeit der AKP-Regierung nach 2002 einen Partner gefunden, um die Frauenrechte im Land in einem Maße zu stärken, wie das seit Jahrzehnten nicht der Fall gewesen war. 2004 wurden 35 Artikel des Strafgesetzes geändert, seither ist auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.

Seine Wahlerfolge verdankt Erdoğan auch den Frauen im Land. Zahlen des türkischen Statistikamtes zufolge sind in den vergangenen zehn Jahren zwar immer noch knapp 500 000 Mädchen verheiratet worden, die Zahl der Kinderehen gehe aber - wenn auch nur leicht - zurück. In manchen Provinzen liege ihr Anteil an den Eheschließungen immer noch bei 15 Prozent. Das Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen Unicef warnt: "Wenn das Gesetz in dieser Form angenommen wird, schwächt das den Kampf gegen sexuellen Missbrauch und Kinderehen."

Ob es so weit kommt? Am Montagnachmittag lud Regierungsvize Numan Kurtulmuş die Opposition ein, Vorschläge für Korrekturen zu machen. Die Regierung sei offen dafür. "Wir werden das besprechen."

© SZ vom 22.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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