Türkei:Wenn der Wind sich dreht

So schnell wechseln in der Türkei die Feindbilder: Wie ein Staatsanwalt binnen eines Jahres vom Justiz-Star zum polizeilich Gesuchten wird.

Von Luisa Seeling

Es könnte der Plot eines Justizthrillers sein: Ein Staatsanwalt bringt unter fragwürdigen Umständen Armeeoffiziere und Regierungsgegner hinter Gitter. Einige Jahre später dreht sich das politische Klima, der Jurist ermittelt jetzt in Regierungskreisen, er wirft Ministern und ihren Söhnen Korruption vor. Der Mann fällt in Ungnade, wird mit einer Schmutzkampagne überzogen, versetzt und schließlich gefeuert. Als er verhaftet werden soll, setzt er sich in letzter Sekunde ins Ausland ab.

Klingt nach "Auf der Flucht" und John Grisham, ist aber eine wahre Geschichte aus der türkischen Justiz. Sie handelt vom tiefen Fall des Staatsanwalts Zekeriya Öz, einem der prominentesten Juristen des Landes. Gemeinsam mit seinem Kollegen Celal Kara soll er vergangene Woche über Georgien zunächst nach Armenien geflohen sein. Ein weiterer Staatsanwalt, Mehmet Yüzgeç, ist untergetaucht. Die drei kamen so einer Verhaftung zuvor. Die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah zeigt Aufnahmen einer Überwachungskamera von Öz' und Karas Ausreise. Verschwommen sind darauf zwei Gestalten mit Rollkoffern zu erkennen, die Botschaft lautet: Wer so klandestin nachts über die Grenze flieht, hat Dreck am Stecken.

Zurück zu Erdoğan

Ankara - Nach den gescheiterten Koalitionsgesprächen gibt der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu den Auftrag zur Regierungsbildung zurück an Präsident Recep Tayyip Erdoğan. "Nach den Gesprächen von gestern bleibt keine Option für die Partei", sagte ein Vertreter der islamisch-konservativen AKP am Dienstag. Die Verhandlungen von Erdoğans Partei zur Bildung einer Regierung mit Unterstützung der nationalistischen MHP waren am Montag gescheitert. Davutoğlu sagte, die MHP sei weder zu einer Koalition noch zur Duldung einer AKP-Minderheitsregierung bereit. Vorgezogene Wahlen im Herbst werden immer wahrscheinlicher. Reuters Meinung

Vor einigen Tagen gab es dann Berichte, Öz halte sich in Deutschland auf. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ die Deutschen vorsorglich wissen: Sobald ein internationaler Haftbefehl erwirkt sei, erwarte er die Auslieferung.

Vorgeworfen wird den geflohenen Juristen keine Kleinigkeit: Sie sollen eine illegale Organisation gebildet und versucht haben, die türkische Regierung gewaltsam zu stürzen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Zekeriya Öz im Laufe seiner juristischen Laufbahn mit genau diesem Vorwurf viele Menschen ins Gefängnis gebracht hat. Er war der Mann für die spektakulären, heiklen Prozesse. Sein größter Fall war der Ergenekon-Prozess der 2008 eröffnet wurde und das Land in seinen Grundfesten erschütterte.

Zekeriya Öz soll zum Gülen-Netzwerk gehören. Er hat gegen die Regierung ermittelt

Als Sonderankläger mit weitreichenden Befugnissen brachte Öz Hunderte hochrangige Militärangehörige vor Gericht. Sie waren angeklagt, einem Putschisten-Netzwerk namens Ergenekon angehört und den Sturz der Regierung geplant zu haben. Jahrelang zog sich das Verfahren hin. 2013 wurden fast alle der mehr als 250 Angeklagten zu hohen Haftstrafen verurteilt, einige Ex-Generäle zu lebenslanger Haft. Die Urteile waren eine Zäsur für das Land. Sie markierten das Ende der Allmacht eines bis dahin unantastbaren Militärs. Das Verfahren zeigte aber auch, dass die AKP-Regierung, die 2002 mit dem Versprechen angetreten war, die türkische Justiz zu reformieren, dieses Ziel aus den Augen verloren hat. Unpolitisch war die türkische Justiz nie; jahrzehntelang war sie ein Bollwerk des Kemalismus, das dazu diente, den Staat gegen den Islamismus oder kurdische Autonomiebestrebungen zu verteidigen. Doch je länger die AKP an der Macht war, desto mehr begann sie, diese Strukturen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.

A protester stands against Turkish soldiers during clashes near Silivri

2013 waren sich der Staatsanwalt Zekeriya Öz und die türkische Regierung noch einig. Und gemeinsam das Ziel von Protesten gegen den Ergenekon-Prozess.

(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Opposition und Bürgerrechtler sahen in dem Ergenekon-Prozess eine politisch motivierte Hexenjagd, bei der nicht nur Offiziere, sondern auch Journalisten, Anwälte, Politiker und Akademiker auf Grundlage fadenscheiniger Beweise verfolgt wurden. Sie alle gehörten dem säkular-kemalistischen Lager an, damals der Hauptfeind Erdoğans und seiner islamisch-konservativen AKP-Regierung.

Viele der Verurteilte wurden 2014 wieder freigelassen, weil das Verfassungsgericht Urteile gekippt hatte. Das zeigte einerseits, dass das türkische Justizsystem nicht gleichgeschaltet ist. Andererseits offenbarte sich ein Wandel im politischen Klima: Der Hauptgegner der Regierung war nicht mehr das Militär, sondern die Bewegung um den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen.

Das Gülen-Netzwerk hat viele Anhänger in Polizei und Justiz, auch Zekeriya Öz und die anderen Ankläger im Ergenekon-Prozess sollen ihm angehören. Lange zog die Bewegung mit der AKP-Regierung an einem Strang - das säkular-kemalistische Establishment als gemeinsamer Gegner.

Doch das Zweckbündnis zwischen Gülen-Bewegung und AKP geriet unter Druck. Warum, ist nicht ganz klar, es heißt, die Gülenisten seien Erdoğan zu einflussreich geworden, sie hätten immer häufiger abweichende Interessen verfolgt. 2013 kam es zum Bruch. Da nahmen die Staatsanwälte - mit Zekeriya Öz als Chefermittler - die Regierung selbst ins Visier, wegen Korruptionsverdachts. Am 17. Dezember 2013 wurden AKP-nahe Unternehmer, vier Minister und drei Ministersöhne festgenommen. Auch gegen einen Sohn Erdoğans wurde ermittelt.

Es handele sich um eine Verschwörung der "parallelen Struktur", wetterte Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, gegen das Gülen-Netzwerk. Tausende mutmaßliche Anhänger in Polizei und Justiz wurden versetzt oder entlassen.

Die Säuberungswelle traf auch Öz. 2014 wurde er auf einen weniger einflussreichen Posten versetzt. Sein Nachfolger stellte die Korruptionsermittlungen gegen die Regierung ein. AKP-Abgeordnete, die Öz früher bejubelt hatten, beschimpften ihn jetzt öffentlich. Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte ermittelte nun gegen ihn. Im Mai dieses Jahres bekam er Berufsverbot. Dass es eng für ihn wird, muss er da schon geahnt haben.

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