Türkei:Was hinter dem Streit zwischen Österreich und der Türkei steckt

Christian Kern, Kanzler Österreich

"Nur noch diplomatische Fiktion": Österreichs Kanzler Christian Kern sieht die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei als gescheitert an.

(Foto: REUTERS)

Erst will Kanzler Kern die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei beenden. Dann erklärt Außenminister Kurz den Flüchtlingsdeal für gescheitert. Die verbale Kraftmeierei der Spitzenpolitiker hat auch mit der FPÖ zu tun.

Analyse von Oliver Das Gupta, Salzburg

Für ein relativ kleines EU-Land mit knapp neun Millionen Einwohnern zieht Österreich derzeit ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal liegt das nicht an Erfolgen der radikal rechten Freiheitlichen Partei, sondern an der Außenpolitik Wiens und dem Kurs des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wobei die FPÖ zumindest indirekt auch eine Rolle spielt. Aber alles der Reihe nach.

Das Verhältnis zwischen der Türkei und Österreich zerrüttet sich in diesen Tagen im Zeitraffer. Ausgangspunkt war der gescheiterte Putschversuch und der darauffolgende Verhaftungsfuror in der Türkei.

Vor Kurzem hat Österreichs Bundeskanzler Christian Kern angesichts der Lage in der Türkei die EU-Beitrittsgespräche mit Ankara quasi beendet, die Verhandlungen seien "nur noch diplomatische Fiktion", sagte der Sozialdemokrat. Und preschte damit in Gefilde vor, in denen sich die Spitzen in Brüssel, Berlin und viele andere europäische Staats- und Regierungschefs noch nicht bewegen wollen.

Wie sich die Eskalationsspirale dreht, gefällt Berlin ganz und gar nicht

Kerns Aussagen lösten in der türkischen Regierung so viel Heiterkeit aus wie ein Zigarettenstummel in einer Melange. Nun kürte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu Wien zur "Hauptstadt des radikalen Rassismus'". Sein österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz bestellte den türkischen Botschafter ein, dann legte er nach. Am Freitagabend erklärte er den Flüchtlingsdeal sinngemäß für gescheitert. Die EU müsse die Außengrenzen selbst schützen, um nicht mehr erpressbar zu sein, sagte Kurz im ORF.

Die Art und Weise, wie Wien die Eskalationsspirale dreht, gefällt Berlin ganz und gar nicht. Denn Deutschland will seinerseits weder das mühsam ausgehandelte Flüchtlingsabkommen kündigen noch im Vorbeigehen die Beitrittsverhandlungen kippen. Wenn, dann muss das Ankara schon selbst machen. Entsprechend versuchten Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein luxemburgischer Kollege Jean Asselborn, die starken Sprüche der Österreicher abzudämpfen. Man möchte die Situation endlich beruhigen, man möchte geschlossen auftreten. Wien torpediert diese Bemühungen.

Im Grunde genommen geht es auch um die Frage, wie die EU agiert und ob sie sich dabei untereinander abstimmt. Oder ob öffentlich gegeneinander gehandelt wird, wie es der Wiener Außenamtschef Kurz am Freitagabend getan hat. Unmissverständlich holzte er gegen die von Kanzlerin Angela Merkel maßgeblich geprägte EU-Linie in der Flüchtlingskrise. "Das Kartenhaus der falschen Flüchtlingspolitik wird zusammenbrechen", so Kurz. Es brauche nun eine "ehrliche Debatte". Es klingt so, als ob Österreichs Chefdiplomat Merkel und der EU vorhält, unehrlich zu sein. Merkels bester unionsinterner Parteifeind Horst Seehofer dürfte über solche Aussagen frohlocken.

Der Faktor FPÖ

Warum sich ausgerechnet Österreich so berufen fühlt, in der Causa Türkei lauter Krach zu schlagen als die übrige EU, mag verblüffen. Schließlich haben beide Länder seit der Bosnischen Annexionskrise von 1908 eigentlich keine Probleme mehr. Damals grenzten die Großreiche der Habsburger und Osmanen noch aneinander. Man möchte sich nicht ausmalen, wenn das heute, im Zeitalter der Deutschtümler und Erdoğane, noch der Fall wäre.

Dass sich Wien nun so ins Zeug legt, hat augenscheinlich auch sehr austriakische Gründe. Hier kommt die FPÖ als Faktor hinzu. Die islamfeindliche Partei ist für die regierende Koalition aus Kerns SPÖ und Kurz' ÖVP ein ziemlich großes Problem. In Umfragen rangiert die FPÖ mit deutlichem Abstand vor den Volksparteien.

Kanzler Kern hat sich klar von der rechtspopulistischen Partei abgegrenzt, aber manche in seiner SPÖ liebäugeln mit der FPÖ. Die wiederum umwirbt relativ offen Kurz und sein ÖVP-Umfeld. Der Minister ist im Volk beliebt, aber seine Partei darbt in Umfragen trotzdem.

Seit mehreren Legislaturperioden blockieren sich SPÖ und ÖVP gegenseitig bei Reformprojekten, man gönnt einander keine Erfolge. In der Ausländerpolitik treibt die FPÖ die Regierung vor sich her, daran ändern auch weitere Asylrestriktionen nichts. Die Causa Türkei ist für SPÖ und ÖVP eine Chance, sich zu profilieren. Das Thema besetzen und dominieren, lautet die Devise für Kern und Kurz. Und zwar bevor es die FPÖ tut.

Chefdiplomaten ganz undiplomatisch

Kanzler Kern, der überraschend den EU-Beitritt der Türkei ad acta legt. Die Wortwahl des Chefdiplomaten Kurz, die undiplomatisch klingt und weder der Türkei noch Deutschland schmeckt. Das alles kommt bei denjenigen Wählern gut an, die beide Parteien in den letzten Jahren an die FPÖ verloren haben.

Dabei gibt es noch eine andere Komponente, die bemerkenswert ist. Denn Kanzler und Außenminister vertreten ähnliche Dinge, aber sie wirken nicht wie ein zusammenarbeitendes Duo wie etwa Merkel und Steinmeier.

Die Wiener Wortwahl wird auch deshalb drastischer, weil der SPÖ-Kern und der ÖVP-Kurz sich gegenseitig die Butter vom Brot nehmen wollen, anstatt sich die Jause aufzuteilen. Es ist das alte Dilemma der SPÖ-ÖVP-Koalition.

Kurz hatte am 3. August im Interview mit Spiegel Online den Flüchtlingsdeal zwar kritisiert, aber noch nicht abgeschrieben. Er sprach von Plan A und Plan B. Am 4. August erklärte Kern im ORF die Beitrittsgespräche mit Ankara für gescheitert. Am 5. August erklärte der alerte Außenminister das Flüchtlingsabkommen für erledigt. Von einem Sozialdemokraten will sich der Christsoziale eben nicht rechts überholen lassen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: