Türkei:Ungestillter Hunger

Nach der Wahl debattiert die Türkei über Präsident Erdoğans künftige Machtfülle.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Erdoğan kriegt einfach nicht genug. Schon wieder eine Abstimmung über die Zukunft des Landes? Die gerade erst zurückeroberte absolute Mehrheit seiner regierenden AKP ist noch keine Woche alt, da macht in der Türkei schon wieder dieses Wort die Runde: Wahl.

Genau genommen handelt es sich um eine Volksabstimmung. Es geht um die Verfassung. Erdoğan will ein Präsidialsystem einführen, das seine Befugnisse als Staatspräsident ausweitet. Im Moment schwebt er formal über den Dingen. Das Tagesgeschäft ist Job des Regierungschefs. Doch seit Jahren will Erdoğan den Umbau an der Staatsspitze. "Die Nation wartet darauf", sagte er diese Woche. Sein Sprecher erklärte, die Verfassungsfrage sei so wichtig, dass sie sicher nicht ohne das Volk entschieden werden könne. In jedem Fall kann Erdoğan sie nicht allein entscheiden.

Die verfassungsändernde Mehrheit im 550 Abgeordnete umfassenden türkischen Parlament liegt bei 367. Um ein Referendum auf den Weg zu bringen, braucht Erdoğan 330 Abgeordnete. Der Wahlerfolg brachte seiner AKP nur 317 Sitze im Parlament.

Auch ohne Verfassungsänderung führt Erdoğan sich schon auf wie ein autoritärer Herrscher. Vor dieser Wahl hatte er allerdings deutlich weniger für das Präsidialsystem geworben als bei der Juni-Wahl. Aus gutem Grund: Fast 60 Prozent der Türken sind gegen eine solche Änderung. Dies ergab eine Umfrage Anfang der Woche, die vom Sender CNN Türk in Auftrag gegeben wurde. Die regierungsnahe Zeitung Sabah gab schon mal einen Ausblick auf die Machtfülle, über die Erdoğan verfügen könnte, wenn er seinen Willen durchsetzt: Er wird Chef der Exekutive. Er wird über das Militär herrschen. Gesetze billigen. Gesetze stoppen. Minister berufen und entlassen. Er selbst würde schier unantastbar. In der Opposition mag man sich nicht ausmalen, was passiert, wenn Erdoğan die Grundordnung des Landes weiter zu seinen Gunsten verändert.

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Seit 2014 Staatsoberhaupt: Recep Tayyip Erdoğan.

(Foto: Reuters)

Dass sich die Oppositionsparteien der Diskussion nicht völlig verschließen, hat einen guten Grund. Eine neue Verfassung kann mehr als Erdoğans Machthunger stillen. Im besten Fall hilft sie, das Land zu versöhnen. Die Machtkämpfe der vergangenen Jahre haben das Land tief gespalten. Der Kurdenkonflikt ist wieder voll entbrannt. Westwärts gewandtes Bürgertum steht einer konservativ geprägten, frommen Mehrheit gegenüber, die ihr Glück nicht in einer Hinwendung zur Europäischen Union sucht. Die jetzige Verfassung stammt von 1982. Es ist eine Putschverfassung, formuliert von Generälen. Sie wollten nicht die Freiheit schützen, sondern die Staatsmacht. Die Zehn-Prozent-Hürde, die bis heute in der Türkei gilt, ist darin festgeschrieben. Dass die Kurden sich schwer als Teil des Landes fühlen können, liegt auch daran, dass die Verfassung alle Staatsbürger als türkisch definiert. Sie ist schon mehrmals geändert und liberalisiert worden. Sie ist heute besser als ihr Ruf, aber verbesserungsbedürftig.

Auffällig ist, wie sich die Tonlage in der pro-kurdischen Partei HDP geändert hat. Ihr Anführer, Selahattin Demirtaş, hatte im Wahlkampf versprochen, niemals zuzulassen, dass sich Erdoğan zum Superpräsidenten macht. In dieser Woche verblüffte ein HDP-Sprecher mit der Aussage, man könne über "alle Modelle" reden. Nur ein Ein-Mann-System werde es nicht geben. Demirtaş betonte, es gebe keinen Kurswechsel. Aber einige seiner Anhänger klingen anders. Auch die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, will eine neue Verfassung, solange die kemalistischen Grundzüge von Staatsgründer Atatürk unangetastet bleiben. Ahmet Davutoğlu, alter und wohl auch neuer Premier, hat erkannt, welche Chancen sich auftun. Er hängt nicht so sehr am Präsidialsystem, es würde ja seine Macht beschneiden. Die Diskussion darüber stehe nicht am Anfang der Verfassungsdebatte, heißt es aus seinem Lager. Sieht aus, als ob er Gefallen daran gefunden hat, um seine Macht zu kämpfen.

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