Türkei:Ü-ürü-üüü

Zweieinhalb Millionen Türken leben bei uns. Aber fast keiner von uns kann türkisch. Unser Mann in Istanbul erzählt, was wir leider alles verpassen.

Kai Strittmatter

Ich habe ein neues Lieblingswort. "Gürültülü". Flüstern Sie's mal nach. Wird Ihnen nicht ganz kitzlig um die Mundwinkel? Und jetzt ein wenig lauter. Gürültülü. Sofort wird der ganze Starenschwarm vor Ihrem Küchenfenster fröhlich pfeifend einfallen. Das geht in Ordnung. Gürültülü heißt nämlich "lärmig, krachig, laut". Aber schön krachig halt. Um ein Haar wäre ich diesem Stimmbandtriller nie begegnet: wäre ich nicht nach Istanbul gezogen und hätte ich nicht angefangen, Türkisch zu lernen.

Türkische Fans in Berlin

Rund 2,5 Millionen Türken leben in Deutschland - wie hier in Berlin

(Foto: Foto: dpa)

"Ja Wahnsinn, lernst Türkisch", war die Reaktion vieler meiner Freunde, dahin gemurmelt meist in einem Tonfall konsternierten Desinteresses, und da erst fiel mir auf, was der eigentliche Wahnsinn ist: dass ich bis dahin keinen Verwandten, Freund oder Bekannten hatte, der auch nur ein Wort Türkisch spricht. Ich kenne Leute, die sprechen Chinesisch, Koreanisch und Tibetisch. Ich kenne sogar einen, der spricht Holländisch. Aber Türkisch? Nicht einer.

Dabei stamme ich aus einem Land, in dem zweieinhalb Millionen Türken leben: Es wohnen in Deutschland mehr als drei Mal so viele türkische Staatsbürger wie italienische und mehr als fünfzehn Mal so viele wie spanische. Und doch stürzen sich meine Freunde in Spanisch- und in Griechischkurse, tun dem Italienischen mit ebensolcher Lust Gewalt an wie dem Portugiesischen - würde man ihnen jedoch eine Türkisch-Broschüre auf den Küchentisch legen: man erntete nicht mehr als ein fassungsloses Grinsen.

In meinem Sprachkurs in Istanbul saßen schon ein paar Deutsche, Engländer und Franzosen - wenn ich sie aber fragte, warum sie Türkisch lernten, dann erhielt ich fast ausnahmslos zwei Antworten: Wegen der Arbeit. Wegen meines / meiner Verlobten. Viele schickten einen Seufzer hinterher, der von der Größe ihres Liebesopfers künden sollte. Türkisch lernen aus Neugier, zum Vergnügen gar? Fehlanzeige.

Istanbul ist die "coolste Stadt Europas"

Das muss und das wird sich ändern. Warum? Eigentlich sollte man denken, die guten Gründe lägen auf der Hand zu einer Zeit, da deutsche Magazine zur Verteidigung "unserer Türkei", also des Teutonengrills an der türkischen Riviera, gegen den Einfall der russischen Horden blasen: Mehr als vier Millionen Deutsche machen mittlerweile jährlich in der Türkei Urlaub, doppelt so viele wie in Griechenland.

Und werben unsere Turkologen nicht seit Jahrzehnten so unermüdlich wie unbemerkt mit dem Hinweis, es verschaffe einem die Meisterschaft des Türkischen einen wertvollen Vorsprung beim Erlernen des Uighurischen, des Kipschakischen, ja gar des Gagausischen? Reicht Ihnen nicht? Bitte sehr, diese Gründe fallen mir auf Anhieb ein:

Weil die Türkei in der Türkei ganz anders ist als die in unserem Kopf. Weil die Leute endlich erkennen würden, dass es noch ein, zwei, drei, viele andere Türkeien gibt. Also nicht bloß die der nationalistischen Staatsanwälte, welche die besten Köpfe ihres Landes vor Gericht zerren. Und nicht bloß das in einer Zeitkapsel konservierte Ostanatolientum, welches das Türkenbild der meisten Menschen in Zürich, Wien und Berlin bestimmt (die modernen Türken fallen ja leider nicht auf bei uns).

Weil nicht nur das amerikanische Magazin Newsweek Istanbul derzeit für die "coolste Stadt Europas" hält. Weil demnächst ein Türke den Literatur-Nobelpreis bekommen wird. Weil das Land die am schnellsten wachsende Wirtschaft des Kontinents hat. Weil die Türkei vielleicht bald mittendrin steht in Europa. Und zwar als dann größtes Volk. "Weil man den Türken besser zum Freund hat denn zum Feind." (Ergänzt ein türkischer Freund).

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Hier drei Argumente vom Fachmann. Es spricht: Christoph Neumann, Übersetzer von Orhan Pamuks "Schnee". "Du möchtest eine exotische Sprache lernen, sie soll aber doch mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden? Bitteschön: Du hast die Wahl zwischen Albanisch, Baskisch, Maltesisch - und Türkisch."

Istanbul

Sonnenuntergang in der "coolsten Stadt Europas"

(Foto: Foto: AP)

"Stell dir vor, du bist ein Marsmensch und landest auf der Erde. Du hast nur 48 Stunden Zeit, eine Sprache zu lernen. Absolut logisch soll sie sein und mindestens ein Prozent der Weltbevölkerung soll sie sprechen. Ganz klar: Der Marsmensch wird Türkisch lernen."

"Es ist die am wenigsten übersetzte ernstzunehmende Literatursprache. Und der türkische Roman ist so komisch. Ach, was gibt es da noch für Schätze zu entdecken."

Schätze. Wer sich auf die Türkei einließe, der würde nicht nur feststellen, dass sie den schönsten Frauen Europas Heimat ist, er würde auch erkennen, dass die Melodie ihrer Sprache zu Unrecht einen schlechten Ruf genießt. Vielmehr fließt das Türkische aus dem Munde einer schönen Lehrerin gleich einem mit Edelsteinen besetzten Band aus Atlas.

Und wer es spräche, der könnte diesen Frauen in einem kühnen Augenblick auch Verse wie diese ins Ohr flüstern: "Meine schwarze Maulbeere, meine Vliesschwarze, meine Zigeunerin / Was hättest du mir alles noch sein können, meine Einzige / Meine lachende Quitte, mein weinender Granatapfel / Mein Weib, meine Stute, meine Frau."

Beim Zeitunglesen kommt man aus dem Staunen nicht heraus

Ein Gedicht des Malers und Lyrikers Bedri Rahmi Eyüboglu, das dieser vor mehr als 50 Jahren weinend seinen Gästen vortrug: Gewidmet war es seiner Geliebten, die einst mit einer Lungentzündung darnieder gelegen war. Der Maler hatte seine Bilder verschleudert, um ihr die teuren Medikamente zu kaufen. Es half nichts, sie starb. Seine Frau, die angetraute, verließ ihn später, dann schrieb sie ihm diese Zeilen: Sie fühle sich, als ob ihr einer ein heißes Bügeleisen ins Blut drücke.

Vielleicht sollten Sie Türkisch aber ganz einfach deshalb lernen: Weil es Spaß macht. Allein die vielen ö's und ü's, mit denen Sie Ihre Mitspieler in Zukunft in die Scrabble-Hölle buchstabieren. Freunde des gespitzten Umlautmundes werden sich hier fühlen wie im Schlaraffenland und dürfen zudem jeden Morgen zum Weckruf des türkischen Hahns erwachen: "Ü-ürü-üüü!"

Oder die Speisekarte: Auf der steht nicht einfach "gefüllte Aubergine", auf der steht: "Der Imam ist in Ohnmacht gefallen". Wahrscheinlich, weil es ihm so gut geschmeckt hat. (Obwohl. Es wäre noch zu klären, ob von religiöser Namenspatronage so ohne weiteres Rückschlüsse auf die Qualität eines Gerichtes zu ziehen sind: In Chinas vegetarischen Lokalen servieren sie eine Gemüseplatte, die heißt "Der Buddha springt über die Mauer". Dabei schmeckt sie wirklich nicht schlecht).

Und erst die türkischen Zeitungen, allein sie sind hundertfacher Lohn: Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Da sprudelt einem tagein tagaus so viel Wunderliches und Bizarres auf den Frühstückstisch, dass der Verdacht nicht fernliegt, türkische Satirezeitschriften wie Penguen und LeMan hätten sich der Tagespresse wegen darauf verständigt, durchgehend in Cartoon-Form zu erscheinen: Man würde den Unterschied sonst nicht merken.

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Schön das "King-Kong-in-der-Türkei"-Titelbild von LeMan Ende Dezember: Ein vor Panik zitternder King Kong krallt sich an der Spitze des Minaretts einer Moschee fest, während unter ihm die türkischen Männer ihrem täglichen Geschäft nachgehen: Sie schlagen sich die Köpfe blutig.

Es gibt im Türkischen viele Wörter, die auch ohne Umlaut auf Anhieb Freude machen. Zum Beispiel "Sakamaka". Gesprochen wird das "Schakamaka" und heißt dem Lexikon zufolge: "Scherz beiseite!", ganz entgegen seiner gefühlten Bedeutung. Oder das "vasistas". Sprechen Sie das mal laut aus. Was das ist, das wasistdas? Ein schmales, oberhalb des normalen Fensters eingelassenes Klappfenster. Zuverlässiger Quell guter Laune sind auch all die eingetürkten Franzosenwörter (ein Wörterbuch zählte gut 5000 von ihnen).

Das ist überhaupt ein Ding: Die Türken schreiben - sürpriz, sürpriz - das Französische viel einfacher als die Franzosen. Hier in Istanbul fahren Sie gemeinsam mit Ihrem "kuzen" im "asansör" hinauf zum "kuaför" und hinterher bitten Sie im Café den "garson" um ein paar "milföy" mit "frambuaz". Das geht, seltener, auch mit deutschen Lehnwörtern, Warum die Türken allerdings ausgerechnet unsere Wörter "aysberg", "haymatloz" und "marsch!" (Ausrufezeichen wird mitgesprochen) eingebürgert haben, ist mir nicht klar. Warum die Geschöpfe des Istanbuler Nachtlebens zum "Flört" einladen, schon eher.

Nicht verschwiegen sei, dass das Erlernen des Türkischen gemeinhin Mongolen und Japanern leichter fallen soll als dem gewöhnlichen Mitteleuropäer, hat es seine Wurzeln doch höchstwahrscheinlich im Altaigebirge, da wo sich heute die Mongolei, China und Russland reiben. Türkischsprechende verweisen gerne darauf, wie stringent und logisch die Sprache aufgebaut sei.

Dem Indogermanen ein fremdes Tier

"Die Struktur des Türkischen - das hat was. Das hat Eleganz", sagt Pamuk-Übersetzer Chrisoph Neumann, und sinnt dem Gesagten mit einem liebevollen Blick in die Ferne hinterher: "Das ist wirklich mal was ganz anders." Das stimmt. Auch wenn es dem Anfänger manchmal so scheint, als habe sich die Sprache ihre Logik auch dadurch erkämpft, indem sie jede Ausnahme flugs zu einer neuen Regel erklärte.

Das Türkische ist dem Indogermanen ein fremdes Tier. Es zu zähmen heißt, sich eine neue Welt anzueignen. Eine Welt, die für das Wort "Ehre" gleich vier Begriffe kennt, aber auch für das "Herz" noch doppelt so viele wie das Deutsche. Es gibt im Türkischen eine eigene Vergangenheitsform für Dinge, die man nicht selbst gesehen oder bewusst erlebt hat, eine Vergangenheit aus zweiter Hand gewissermassen. Die Form ist vor allem dann nicht ohne Reiz, wenn man sie auf sich selbst anwendet: "Da soll ich ganz schön betrunken gewesen sein ...". Es verleiht dem eigenen Tun eine oft nicht unwillkommene Unschärfe.

Andererseits wickeln wir uns hier fleißig endlose Suffixketten um die Bäuche und verstricken und verstolpern uns heillos darin. Es wachsen in der Türkei nämlich auch an sich harmlosen Wörtern lange Schwänze aus immer noch neuen Endungen - und leider wedeln dann im Türkischen tatsächlich die Schwänze mit den Wörtern, und nicht selten werden auch die Studenten der Wörter gleich kräftig mitgeschüttelt.

So geschah es der geliebten Frau an meiner Seite in der dritten Schulwoche. Es war Spätsommer, wir schliefen in einem Mücken-verseuchten Zimmer, sie musste sich die ganze Nacht kratzen - und hatte dann in dämmrigem Halbschlaf diesen Traum: Aus dem Ellbogen, aus dem Knie und aus dem großen Zeh - überall dort, wo besonders giftige Tierchen zugebissen hatten - wuchsen ihr türkische Endungen, lange, wuchernde Suffixschlangen.

Voller Schrecken bemerkte meine Freundin, dass es die falschen Endungen waren: Am großen Zeh dockten nur noch u's an, aber keine i's mehr. Am geschwollenen Knie hingegen hingen lauter Endungen mit "i" und wollten die ü's nicht hinlassen. Als ich sie aufweckte, erzählte sie mir atemlos, sie habe gerade verzweifelt die i's dort weggekratzt. Denn die ü's, die brauchen wir doch: für "Gürültülü".

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