Türkei:Tod und Taktik

Lesezeit: 1 min

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigt zum wiederholten Mal an, dass er das Parlament über die Wiedereinführung der Todesstrafe abstimmen lassen will. Ungewiss ist allerdings, ob er die Kapitalstrafe tatsächlich selbst will.

Von Luisa Seeling, München

Der türkische Präsident kündigt nicht zum ersten Mal an, das Parlament über die Wiedereinführung der Todesstrafe abstimmen zu lassen. Recep Tayyip Erdoğan hat die Forderung nach der Kapitalstrafe wiederholt vorgebracht nach dem Putschversuch am 15. Juli. Beunruhigend für die europäischen und Nato-Partner des Landes dürfte sein, dass er es am Samstag in Ankara erneut getan hat. Erdoğan kündigte an, die Regierung werde dem Parlament "bald" einen Gesetzentwurf über die Wiedereinführung der Todesstrafe übermitteln. Er sei überzeugt, dass die Abgeordneten dafür stimmen werden - und er werde sie ratifizieren. Kritik der EU "zählt nicht"; der Volkswille zähle.

Um das Thema Todesstrafe war es zuletzt ruhig geworden, doch das Projekt ist nicht vom Tisch. Unklar ist aber, inwieweit der Präsident die Wiedereinführung durchboxen will. Klar ist, dass Erdoğan jene zufriedenstellen will, die nach der Todesstrafe rufen. Auch bei der Veranstaltung in Ankara hatte er auf eine Gruppe reagiert, die "Wir wollen die Todesstrafe" skandierte. Für eine Wiedereinführung bräuchte die regierende AKP eine Zweidrittelmehrheit im Parlament; mit einer 60-Prozent-Mehrheit wäre ein Referendum möglich. In jedem Fall ist die AKP auf Stimmen der Opposition angewiesen. Mancher Beobachter glaubt, der Präsident setze darauf, dass die Wiedereinführung im Parlament scheitert; dann hätte Erdoğan die Volksvertreter entscheiden lassen. Dass die Konsequenzen einer Wiedereinführung massiv wären, weiß man auch in der AKP: Der EU-Beitrittsprozess wäre am Ende, die Entfremdung zwischen Ankara und Europa nähme zu.

Zehntausende Mitarbeiter der Sicherheitskräfte, Justiz, Medien und des Bildungswesens sind aus dem Dienst entfernt worden, mehr als 35 000 Menschen wurden verhaftet. Nun kommen nochmals mehr als 10 000 Staatsdiener hinzu, die ihre Jobs verlieren. Es soll sich vor allem um Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen handeln. Die Kampagne richtet sich aber auch gegen kurdische Einrichtungen. Zehn Tage nach der Verlängerung des Ausnahmezustands ordnete die Regierung am Wochenende die Schließung von 15 vor allem prokurdischen Medien an. Gegen die Bürgermeister von Diyarbakir, Firat Anli und Gültan Kisanak, wurde fünf Tage nach ihrer Festnahme Haftbefehl erlassen.

© SZ vom 31.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: