Deutschland und Türkei:Tiefe Kluft

Die Inhaftierung des Korrespondenten Yücel hat Berlin so verärgert, dass es die Beziehungen zur Türkei als längerfristig belastet ansieht.

Von Stefan Braun, Berlin

Der Konflikt um die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in Istanbul sorgt für massive Spannungen zwischen Berlin und Ankara. Nicht nur deutsche Oppositionspolitiker, auch die Bundesregierung hält den Fall für so gravierend, dass sie mit einer längerfristigen Belastung rechnet, hieß es am Dienstag aus Regierungskreisen. Das Auswärtige Amt lud den türkischen Botschafter zum Gespräch, und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) betonte, die Entscheidung der türkischen Justiz brüskiere alle, die sich trotz aller Probleme um eine Verständigung bemühten. Die Inhaftierung Yücels mache "die Arbeit an einem rationalen Verhältnis außerordentlich schwierig"; die deutsch-türkischen Beziehungen stünden entsprechend "vor einer ihrer größten Belastungsproben in der Gegenwart". Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz verlangte auf Twitter die sofortige Freilassung Yücels und 150 weiterer Journalisten in türkischer Haft. In mehreren deutschen Städten waren für den Abend Solidaritätskundgebungen geplant. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte die Entscheidung des Haftrichters "bitter". Für großen Ärger sorgt in Berlin, dass Yücel nach zwei Wochen Polizeigewahrsam nicht unter Auflagen freikam, sondern nun in Untersuchungshaft sitzt, obwohl er sich zuvor freiwillig gestellt hatte. "Damit hat Ankara jede Möglichkeit verstreichen lassen, den Konflikt zu entspannen", hieß es in der Regierung. Dem Journalisten der Tageszeitung Die Welt wird nach Angaben des Blattes "Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung" vorgeworfen.

Die Hoffnungen auf eine baldige Besserung der Lage für Yücel schwinden in der Bundesregierung. "Es steht zu befürchten, dass die türkische Regierung nun auf die Unabhängigkeit ihrer Justiz verweist und erklärt, sie könne gar nichts mehr machen", sagte ein hoher Berliner Regierungsbeamter. Die Bundesregierung will dennoch für eine Freilassung Yücels werben und ihm eine konsularische Betreuung ermöglichen. Bislang ist diese nicht gestattet. Da er neben dem deutschen auch einen türkischen Pass besitzt, wird er von der Türkei als türkischer Staatsbürger betrachtet und hat nicht die üblichen Rechte auf Betreuung durch deutsche Diplomaten.

Der grüne Außenpolitiker Omid Nouripour warf der Regierung vor, sich vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erpressen zu lassen. Die Inhaftierung Yücels sei nur deshalb möglich geworden, weil Berlin es in der Vergangenheit versäumt habe, klar dagegenzuhalten. Durch das Flüchtlingsabkommen habe sich Berlin "willentlich in eine Geiselhaft Erdoğans begeben", sagte der Grünen-Politiker.

Der Unionsfraktionsvize Franz Josef Jung sagte, der Fall Yücel habe "nichts mehr mit Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit" zu tun. Die Türkei sei Mitglied im Europarat; das verpflichte sie zur Einhaltung gemeinsamer Werte wie Demokratie und Menschenrechte. Diese Rechte aber "erodieren derzeit". Scharfe Töne kamen auch von der Venedig-Kommission des Europarates. Sie warnte nach Prüfung der türkischen Verfassungspläne vor dem Abdriften in eine Autokratie.

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