Türkei vor dem Referendum:Tage der Wölfin

Türkei vor dem Referendum: Meral Aksener wirbt eine Woche vor dem Referendum für ein Nein zur Verfassungsreform.

Meral Aksener wirbt eine Woche vor dem Referendum für ein Nein zur Verfassungsreform.

(Foto: AFP)

Von allen Gegnern Erdoğans könnte Meral Akşener dem türkischen Präsidenten am gefährlichsten werden. Die Politikerin hat großen Einfluss - und kämpft für ein Nein beim Referendum.

Von Mike Szymanski, Muş

Die "Wölfin" streift durch die Hauptstraße von Muş, einer Provinzhauptstadt in Ostanatolien. Lila Mantel, Perlenohrringe, prüfender Blick. Der Legende nach hat eine Wölfin die Türken in die Freiheit geführt. Asena nannten sie das Tier. Asena ist ein großer Name in der Türkei. Und so nennen ihre Anhänger diese Frau, Meral Akşener.

Akşener ist Politikerin. In den Neunzigerjahren - es tobte der Krieg gegen die Terrororganisation PKK - war sie Innenministerin, die erste und bislang einzige Frau auf diesem Posten. Seither umgibt die 60-Jährige eine Aura der Härte. Dazu gehört auch, dass sie bis vor Kurzem bei den Ultranationalisten der MHP eine Heimat als Abgeordnete gefunden hat. Die MHP und ihre rechtsextremen Ausleger waren früher gefürchtet. Heute geben sie sich gemäßigt. Akşener war gemessen an MHP-Verhältnissen immer schon moderater.

Aus eigener Kraft kann Erdoğan den Systemwechsel nicht durchsetzen

Die "Wölfin" steuert einen Klamottenladen an. Vor der Tür pumpen sich ihre Bodyguards auf. Drinnen schaut Akşener sich um, als würde sie die Umkleide suchen. Sie geht auf den Mann an der Kasse zu. Schmächtiger Typ. Vollbart. Überfordert mit dem Überraschungsbesuch und damit, dass jemand mit ihm über die wirtschaftliche Lage sprechen möchte und nicht nach Kleidergrößen fragt. Aber es ist Wahlkampfzeit.

Am 16. April entscheiden die Türken in einem Referendum, ob Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ein Präsidialsystem einführen soll. Erdoğan würde damit mächtiger denn je und das Parlament geschwächt. Die Justiz, die hätte er noch ein Stück weiter unter Kontrolle gebracht.

Meral Akşener arbeitet gegen Erdoğan. Sie will das verhindern. Sie ist die Saboteurin, denn sie verkörpert die Opposition im eigenen Lager. Aus eigener Kraft ist Erdoğan nicht in der Lage, den Systemwechsel durchzusetzen. Am 16. April braucht er mehr als 50 Prozent der Stimmen.

Im Parlament hatte seine Partei, die alleinregierende AKP, zunächst weder die erforderliche Mehrheit, um die Verfassung direkt zu ändern, noch um sie dem Volk in einem Referendum vorzulegen. Bei der jüngsten Wahl erhielt sie knapp 50 Prozent der Stimmen.

An der Spitze der Dissidenten

Alle anderen Parteien waren gegen das Präsidialsystem. Aber dann passierte etwas Seltsames. Devlet Bahçeli, der Vorsitzende von Akşeners Partei MHP, änderte seine Meinung. Er lief ins Erdoğan-Lager über. Er will jetzt auch das Präsidialsystem. Das war aber auch der Moment, in dem er seine eigene Partei gespalten hat. Akşener führt seither das Lager der Dissidenten an: eine Handvoll Abgeordneter, die aus der Partei ausgeschlossen wurden.

Akşener geht mit einem Lächeln aus dem Geschäft. "Ich höre zu, was die Leute sagen", erzählt sie. 54 Städte habe sie in den vergangenen Wochen und Monaten besucht. Und ein Argument komme immer. "Die Leute wollen nicht, dass eine Person so viel Macht bekommt." Akşener sagt, aus ihrer Sicht hätte sich die Basis der MHP entschieden: "Ich behaupte, dass 80 Prozent mit Nein stimmen werden." In Erdoğans Umfeld redet man schon. Er sei unzufrieden mit der Leistung der MHP. Der Partner liefere nicht.

Von allen Gegnern, die der Staatspräsident hat, könnte die 60-Jährige ihm am gefährlichsten werden. Das dürfte der Grund sein, warum bei Auftritten von Akşener schon der Strom abgeschaltet wurde, warum ihre Mitstreiter offen auf der Straße angegriffen wurden. In Muş geht sie die wenigen Meter von Geschäft zu Geschäft nicht zu Fuß, sondern lässt sich mit dem Auto bringen. Sie steigt auch erst dann aus, wenn ihr Sicherheitspersonal zustimmt.

Wenn sie öffentlich auftritt, dann stehen die ehemaligen Weggefährten, die Nationalisten, auf der Straße und lassen die Frau nicht aus den Augen. Die einen haben Wut im Bauch: "Ich hätte nie gedacht, dass sie einmal gegen die eigene Partei Wahlkampf macht", sagt einer, der seit den Siebzigern der MHP angehört. Andere sprechen voller Verehrung über Akşener. Sie könnte MHP-Chefin werden, wenn sie sich dieses Mal nicht unterkriegen lässt.

Akşener spricht sowohl die Religiösen als auch die Säkularen an

Vor knapp einem Jahr hatte sie versucht, Bahçeli abzulösen. Der Parteichef steht unter Druck. Er kann seinen Anhängern keine Machtperspektive mehr bieten. Er war schon Vorsitzender, als Erdoğan die AKP 2002 an die Macht führte. Seither ist die MHP, die früher in Koalitionsregierungen mitredete, in der Oppositionsrolle gefangen. 2016 probte Akşener den Aufstand. Die Rebellen wollten vorgezogene Wahlen zum Parteivorsitz erzwingen. Aber Bahçeli kämpfte gegen einen Sonderparteitag an. Es waren am Ende türkische Gerichte, die den Konvent untersagten.

Und dann kam der Putschversuch durch das Militär im Sommer 2016. Danach war alles anders. Und der Putsch innerhalb der MHP abgesagt - bis Bahçeli im Herbst die Allianz mit der AKP einging. Warum er das tat, das ist bis heute nicht klar. Manche sagen, es gehe ihm wie Erdoğan um die eigene Macht. Der Staatspräsident könnte ihn aus Dankbarkeit für die Hilfe beim Präsidialsystem zu einem seiner Stellvertreter machen. Die MHP würde im Präsidialsystem aber zu einer nationalistischen Strömung im Block mit der dominanten AKP verkümmern. Akşener sagt: "Es würde uns alle traurig stimmen, wenn die MHP mit ihrer 48-jährigen Tradition ihre Tore schließen muss."

Akşener begann ihre politische Karriere bei der Partei des Rechten Weges von Tansu Çiller in den Neunzigerjahren. Çiller war die erste Frau im Amt des Premierministers. Akşener wurde später Çillers Vertraute. In den Neunzigerjahren kamen und gingen die Regierungen. Akşener war nicht einmal ein Jahr Innenministerin. Die Jahre danach waren für sie eine Zeit der Suche. 2001 hatte sie sich für ein paar Monate sogar Erdoğans neuer Bewegung angeschlossen, aber eine neue Heimat fand sie bei der MHP. Sie wurde Hauptberaterin von Bahçeli und bald eine der beliebtesten Politikerinnen der MHP.

Allein ihre Kandidaturpläne für den Vorsitz haben die politische Rechte in der Türkei euphorisiert. Sie könne der AKP wieder die nationalistischen Wähler abjagen. Beide Parteien hatten immer eine große Schnittmenge. Sie nimmt auch die Religiösen ernst. Ihr moderner Lebensstil kommt bei Säkularen an. Bei 20 Prozent und mehr wurde die MHP unter ihrer Führung schon von Meinungsforschern gesehen. Eine solch starke rechte Partei könnte das Ende der Alleinherrschaft von Erdoğans AKP bedeuten. Was will Akşener? "Ich arbeite mit aller Kraft für ein Nein", sagt sie. Nur darum gehe es. Sollte es am 16. April dafür reichen, dann geht es um viel mehr. Dann ist Erdoğan politisch angezählt. Und Devlet Bahçeli wohl über kurz oder lang Geschichte. Das wäre der Moment der "Wölfin".

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