Türkei:Stabilität oder Diktatur

In der Türkei bringen sich Regierung und Opposition in Stellung für den Kampf um das Verfassungsreferendum im kommenden April. Das Lager von Präsident Erdoğan versucht sogar mit der Wiedereinführung der Todesstrafe für sich zu werben.

Von Luisa Seeling

Das ging selbst der türkischen Regierung zu weit: "Wenn wir nicht 50 Prozent bekommen", hatte Ozan Erdem gesagt, Vize-Vorsitzender der Regierungspartei AKP in der Provinz Manisa, "bereitet euch auf einen Bürgerkrieg vor." Erdem sprach über das Referendum am 16. April, bei dem die türkische Bevölkerung über die Einführung eines Präsidialsystems abstimmen soll. Sein Gerede vom Bürgerkrieg stieß auch im Regierungslager auf heftige Kritik. Am Donnerstag erklärte Erdem schließlich seinen Rücktritt.

Im Südosten nennt ein regierungstreuer Bürger seine Tochter "Evet" - Ja

Dass die AKP den Scharfmacher aus Manisa zurückpfeift, ist insofern erstaunlich, als das Ja-Lager ansonsten wenig unversucht lässt, um die Menschen von den Vorzügen der Verfassungsänderung zu überzeugen. Das Präsidialsystem würde dem amtierenden Staatschef Recep Tayyip Erdoğan deutlich mehr Macht verleihen - und das ist im Wesentlichen auch die Argumentationslinie seiner Anhänger: Das Land werde sichererer, stärker und stabiler, wenn das System an die de facto bestehenden Machtverhältnisse angepasst werde. Gegner der Pläne befürchten eine Ein-Mann-Diktatur, die das Chaos im Land noch vergrößert.

Am Freitag begann die Ja-Kampagne mit einer Rede Erdoğans in der Stadt Kahramanmaraş. Seine jüngsten Äußerungen verheißen einen harten Wahlkampf, immer wieder rückt er Befürworter eines Neins in die Nähe von Terroristen und Separatisten. Auch die Todesstrafe ist plötzlich wieder Thema, obwohl deren Wiedereinführung gar nicht zur Abstimmung steht. "So Gott will, wird der 16. April ein Signal für diese Sache sein", sagte Erdoğan vergangene Woche. Mit Blick auf den Putschversuch im Juli ergänzte er: "Wie könnten wir das Blut meines Soldaten, meines Polizisten ungerächt lassen? Deshalb ,Ja' am 16. April."

Das ist vor allem ein Zugeständnis an die Nationalisten, auf deren Stimmen Erdoğan angewiesen ist. Im Parlament hat die ultrarechte MHP den Entwurf für eine neue Verfassung mehrheitlich unterstützt, an der Basis aber herrscht Skepsis. Dass künftig alle Macht bei Erdoğan gebündelt sein soll, ist vielen MHP-Wählern nicht geheuer. Die Todesstrafe und eine harte Haltung im Kurdenkonflikt sollen ihnen die Änderung schmackhaft machen.

Für Erdoğan geht es um viel. Seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt 2014 wirbt er für den Systemwechsel, er hat ihn zur obersten Priorität seiner Politik gemacht. Deshalb dürften ihn Umfragen beunruhigen, die mal ein Ja, mal ein Nein, stets aber ein knappes Ergebnis voraussagen. Der Druck, den Regierung und Staatsapparat auf das Nein-Lager ausüben, ist entsprechend gewaltig. Wegen des Ausnahmezustands, der bis April fortdauern soll, ist ein fairer Wahlkampf unmöglich. Kundgebungen werden von der Polizei aufgelöst. Und zahlreiche Politiker der prokurdischen HDP, darunter auch die Parteichefs Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sitzen wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis. Sie sind prominente Gegner der Verfassungsänderung.

Auch in den Medien kommt das Nein-Lager kaum zu Wort. Die Zeitung Hürriyet ließ ein Interview mit dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, in dem er sein Nein ankündigt, in der Schublade verschwinden. Zuvor musste ein Moderator des Senders Kanal-D gehen, weil er sich als Gegner des Präsidialsystems positioniert hatte.

Verbreitung fand dagegen die Geschichte eines Bauern im Südosten, der seine Tochter aus Begeisterung für Erdoğan "Evet" nannte - ja. "Als wir den Namen des Babys wählten, haben wir an die Abstimmung am 16. April gedacht", sagte er der Nachrichtenagentur DHA. So ganz uneigennützig war der Schritt allerdings nicht: Der Mann, so DHA, habe Erdoğan um einen Job gebeten.

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