Türkei:Richter schelten Richter

Ergenekon trial verdict

Viel Rauch um einen Mammutprozess: Nach dem Urteil vor zwei Jahren, unter anderem gegen hochrangige Offiziere, protestierten Anhänger des Militärs gegen die türkische Regierung.

(Foto: Tolga Bozoglu/dpa)

In der Türkei wird ein spektakuläres Urteil gegen Erdoğans Gegner für null und nichtig erklärt.

Von Luisa Seeling

Es war der vorläufig letzte Akt in einem juristischen Kampf, der die Türkei über Jahre gespalten hat. Das höchste türkische Berufungsgericht hat die Verurteilung Hunderter Offiziere, Journalisten und Akademiker, denen wegen angeblicher Putschpläne der Prozess gemacht worden war, für null und nichtig erklärt. Für Teile der Justiz ist das eine Ohrfeige, auch für die AKP-Regierung, die das Verfahren seinerzeit in den höchsten Tönen gelobt hat.

Die Richter begründen die Entscheidung so: Der sogenannte Ergenekon-Prozess strotze nur so vor Rechtswidrigkeiten, darunter illegalen Abhöraktionen des Geheimdienstes. 2013 wurden 275 Angeklagte zu langen Haftstrafen verurteilt, 16 von ihnen erhielten lebenslang, auch der frühere Generalstabschef Ilker Başbuğ. Es war ein Mammut-Verfahren - und der erste Prozess in der Geschichte der Republik, in dem sich hochrangige Offiziere vor Gericht verantworten mussten.

AKP-Politiker wurden damals nicht müde, die Arbeit der Justiz zu loben. Kein Wunder: Das Verfahren richtete sich gegen die Hüterin des Kemalismus, die Armee, und andere säkulare Kräfte - damals Erdoğans erbittertste Widersacher. Es ist wohl kein Zufall, dass die Ermittlungen 2007 begannen; kurz zuvor hatte sich das Militär gegen Erdoğans Parteifreund Abdullah Gül als Präsidentschaftskandidaten ausgesprochen. Nach einigem Ringen setzte Erdoğan sich durch. Im Jahr darauf begann der Ergenekon-Prozess.

Eine regierungsnahe Zeitung wittert eine Verschwörung der Gülen-Bewegung

Die säkulare Opposition, Bürgerrechtler und viele ausländische Beobachter hielten das Verfahren damals schon für ein politisches Manöver der Regierung, um Gegner zum Schweigen zu bringen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts von Donnerstag quittierte der Chef der oppositionellen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, mit den Worten, es gebe immer noch Richter mit Mut in diesem Land. Die Angeklagten selbst hatten die Vorwürfe immer zurückgewiesen. Es habe nie ein Netzwerk von Verschwörern gegeben, keinen nach der mythischen Heimat der Türken in Zentralasien benannten Ergenekon-Geheimbund. Das Oberste Gericht stützt diese Darstellung: Es mangele an Beweisen für eine terroristische Organisation.

In der AKP hat man die Schuldigen am juristischen Desaster längst ausgemacht: Das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen habe "den Gerichtsprozess vergiftet", twitterte Vizepremier Yalçın Akdoğan. Tatsächlich wurden die Anklagen von Staatsanwälten erhoben, die der Gülen-Bewegung angehören. Die Zeitung Daily Sabah, eine Art Verlautbarungsorgan der Regierung, raunt, alles sei eine Verschwörung der "zwielichtigen Gülen-Bewegung mit Hilfe ihrer Spione in Justiz und Polizei" gewesen. Die Entscheidung des Obersten Gerichts, meint eine Kolumnistin, zeige, dass die "Fethullahistische Terrororganisation" "ausgemerzt" werden müsse, um die Türkei zu einem echten Rechtsstaat zu machen.

Ein wichtiges Detail erwähnt die Regierungspresse mit keinem Wort: Fethullah Gülen, der seit Ende der Neunziger in den USA lebt, war lange Zeit Erdoğans enger Verbündeter. Die in Justiz, Polizei und Verwaltung besonders stark vertretenen Gülen-Anhänger waren der AKP früher durchaus nützlich - sie hatten schließlich einen gemeinsamen Feind: das kemalistische Establishment. Doch 2013 kam es zum Bruch, weil die Staatsanwälte, die schon im Ergenekon-Prozess ermittelten, nun Erdoğans Umfeld wegen Korruptionsverdachts ins Visier nahmen. Seitdem verfolgt der Staat jeden, der im Verdacht steht, ein Gülenist zu sein; Gülen selber wird in Abwesenheit der Prozess gemacht, wegen angeblicher Umsturzpläne.

Mit dem Urteil von Donnerstag wäre theoretisch der Weg frei für einen ganz neuen Prozess im Fall Ergenekon. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. So oder so haben sich die politischen Vorzeichen völlig geändert: Das Militär ist entmachtet, die säkularen Kräfte sind zurückgedrängt. Gülen hingegen, früher ein Freund Erdoğans, ist nach Ansicht der Regierung mindestens so gefährlich wie die Extremisten der PKK.

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